I. S. Turgenev - Briefe aus Sinzig

Von Hannes Rötter
1.5.2014

Turgenev   

I. S. Turgenev (1818–1883), russischer Schriftsteller von Weltgeltung, Zeitgenosse von Dostoevskij und Tolstoj, kam am 3. Juli 1857 nach Sinzig, von wo er am 31. Juli (vorzeitig) wieder abreiste. Eine Trink- und Badekur sollte ihm Linderung seiner Schmerzen schaffen. Am 12. Juli begann er hier seine Erzählung „Asja“ zu schreiben, deren Handlung er in diesem Raum ablaufen lässt. In Linz gibt es am Haus Nr. 4 Am Gestade eine kleine Hinweistafel. „In diesem Haus, dem ehemaligen Gasthof „Zur Sonne“ beginnt die Novelle „ASJA“ des russischen Dichters Ivan S. Turgenjew 1818-1883“. Wenn die Geschichte eigentlich auch in Sinzig beginnt, so ist es doch zutreffend, dass der Beginn der zentralen Handlung der „Asja“ in Linz zu verorten ist.

Turgenev Beziehung zu Sinzig ist im Hinblick auf seine Erzählung Asja in der Literatur, wenn auch jeweils nur kurz, immer wieder einmal thematisiert worden. 1982 hat der Magdeburger Slavist Klaus Dornacher auch einen kurzen Artikel über ‚Turgenev in Sinzig’ geschrieben, der, soweit ich feststellen konnte, wohl nur in einer russischen Variante veröffentlicht wurde. Bei der Betrachtung der Asja wurde immer wieder auf einzelne der ‚Sinziger Briefe’, wie ich sie nennen möchte, zurückgegriffen – allerdings immer nur soweit, wie sie im Zusammenhang mit der Erzählung stehen. Andere Briefe wurden ebenfalls einzeln in anderen Zusammenhängen herangezogen und erörtert. Eine zusammenhängende Betrachtung aller Briefe aus Sinzig, die sich auf die Briefe selbst richtet, gibt es, soweit ich sehe, bisher nicht. Dabei ist es durchaus spannend, zu sehen bzw. zu lesen, womit sich Turgenev in diesen Tagen beschäftigt.

Turgenev

Seine Briefe (1) berichten über Turgenevs Englandaufenthalt kurz bevor er nach Sinzig kam, über seine Gründe nach Sinzig zu gehen, über Geschäftliches (freundschaftlich und ärgerlich), über Einzelpersonen (u. a. erfährt man, warum L. Tolstoj nicht nach Sinzig kam, obwohl er schon auf dem Wege hierher war), es gibt zwei Glückwunschschreiben zur Geburt eines Kindes, einiges über die verschiedenen Stadien der Kur und Dinge, die sich unmittelbar auf die Adressaten beziehen. Auch zwei Bemerkungen zur aktuellen innenpolitischen Problemen Russlands (Geheimpolizei und Leibeigenschaft) sind zu finden. Ein ‚Glanzstück’ an pointierter, geradezu satirischer Personenschilderung (A. J. Panaeva) ist der Brief vom 6. 7. 1857 (Nr. 609). Lesenswert sind seine Darstellungen zu Tolstoj (Roulette- und Familienprobleme). Dem schönen Gratulationsschreiben an Mme Viardot muss man eine gewisse künstlerische Gestaltung zusprechen (mit einem herrlichen „Alaaf Köln! (das ist ein Freudenruf, den man nur in Köln gebraucht, aber ich finde, dass er gut tut).“)

Was aber sagen die Briefe über die Zeit in Sinzig und über Turgenevs Wahrnehmung von der Umgebung und dem Ort, in dem er „begann, die Erzählung Asja zu schreiben, deren Handlung in ’S’ abläuft, d. h. in eben diesem Sinzig, das sehr detailliert und genau beschrieben ist.“? Von der Umgebung Sinzigs berichtet Turgenev verschiedentlich, wenn auch nicht allzu ausführlich, z. B.: „Vor den Fenstern ein weites Tal, bedeckt von Getreiden jeglicher Art und von Obstbäumen – aber am Horizont die gezähnte Linie der Berge, die am rechten Rheinufer liegen. Ein schöner Ort – aber wenig Schatten.“

Auf seine begonnene Erzählung geht er nicht näher ein, erwähnt nur: „Ich bringe eine Erzählung mit, die ich hier begonnen habe...“

           Turgenev                     Turgenev

Aber auch seine Art, Briefe zu schreiben (Aufbau, Themenwahl, Sprache), ist der Betrachtung wert, zumal diese Briefe offensichtlich nicht auf eine Veröffentlichung ausgerichtet und dementsprechend ‚literarisch’ überformt sind. Für mich geben sie dem Leser einen unverstellten Blick auf den Menschen Turgenev.

Turgenev hat in dieser Zeit aber auch Briefe an Tochter, Freunde und Bekannte geschrieben. Diese Briefe zeigen uns nicht nur einen Blick auf die Gegend, in der Turgenev sich befindet, sondern auch auf den Autor selbst.

Wenn man Turgenevs Erzählung Asja liest, stößt man im I. Kapitel auf einige leicht ‚verschlüsselte’ Ortsangaben:

S. – deutsches kleines Städtchen, am linken Ufer des Rheins, am Fuße zweier hoher Hügel, mit hinfälligen Mauern und Türmen, uralten Linden und einer steilen Brücke über das klare Flüsschen, das in den Rhein mündet…

L. – auf der anderen Seite des Rheines gelegen

B. – Universitätsstadt, aus der Studenten nach L. kommen, um zu feiern…

Aufgrund dieser Kombination der Orts-Siglen und Merkmale sowie einiger weiterer Aussagen stellt sich einem heimischen Leser unmittelbar die Frage, ob hier nicht Sinzig, Linz und Bonn gemeint sein könnten. Eine kleine Verschiebeprobe macht deutlich, dass es ein Dreieck S. – L. – B. (mit Universität) rheinauf und rheinab kein zweites Mal gibt. Zumindest einem deutschen Leser hat Turgenev damit eine relativ leicht zu entschlüsselnde Verbindung von Fiktion und Realität in die Hand gegeben.

Mir scheint es indessen sinnvoll, sich einmal eingehend mit den 12/13 Briefen zu beschäftigen, die Turgenev während seines Kuraufenthaltes 1857 aus Sinzig geschrieben hat, und in dem Zusammenhang weniger die Frage zu stellen, inwieweit dieser Aufenthalt in seine Erzählung Asja hineinwirkt, sondern diese Briefe daraufhin zu befragen, was denn sie über diese Zeit und über Turgenevs Wahrnehmung von Ort und Umgebung aussagen, wie auch den Briefschreiber Turgenev etwas näher kennen zulernen. Gibt es doch bei allem Realismus in der Erzählung – und Turgenev gehört zu den (frühen russischen) Realisten – einen fundamentalen Unterschied zwischen den Briefen und seiner Erzählung: Alles, was aus der Realität in die Geschichte (Asja) hinein genommen wird, gehorcht letzten Endes den Gesetzen fiktionalen Erzählens; es ist in seiner Funktion nicht einfache Ortsbeschreibung, sondern Teil einer Dichtung und muss, von diesem fiktiven Zusammenhang ausgehend, nach seiner Aufgabe befragt werden.

Zwölf vollständige Briefe finden sich in der Moskauer Werk-Ausgabe von 1987. Ein weiterer Brief (Nr. 622) ist am 25. 7. in Sinzig begonnen worden, wurde aber erst am 7. 8. 1857 in Boulogne beendet und von dort auf den Postweg gegeben (2) Sechs Briefe sind in französischer und sechseinhalb in russischer Sprache verfasst. Einige Briefe aus Sinzig sind entweder verloren oder bislang nicht bekannt geworden (3)

Die Sinziger Briefe erfüllen, um es vorwegzunehmen, offensichtlich keine literarischen Aufgaben im engeren Sinne (4); sie zeigen den Besucher, den Kurgast, den Kranken in seinem alltäglichen Leben und seiner alltäglichen Sicht auf die Dinge.

An dieser Stelle sei eine Zwischenbemerkung gestattet. Vielfach habe ich die Beobachtung machen können, dass es ke Problem ist, Tolstoj und Dostoevskij zu erwähnen. Die beiden Verfasser sind in der Regel bekannt – zumindest mit ihren Namen, zumeist aber mit Krieg und Frieden sowie Anna Karenina und Schuld und Sühne (5) auch mit Werktiteln verbunden. Die Erwähnung von Turgenev löst weit häufiger fragende Blicke aus denn Hinweise auf Kenntnis des Autors. Darum seien zwei kleine Zitate eingefügt. L. M. Lotman schreibt in ihrer Literaturgeschichte: „I. S. Turgenev (1818–1883) gehört zu den Schriftstellern, die einen höchst bedeutsamen Beitrag zur Entwicklung der russischen Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geleistet haben.“ (6) P. Urban weist darauf hin, dass man vergessen hat, „daß Ivan Turgenev als einzigem russischen Autor noch zu Lebzeiten eine deutsche Werkausgabe in zwölf Bänden zuteil wurde, daß er von 1850 bis zu seinem Tode 1883 in Westeuropa als erster Repräsentant Rußlands gegolten und er eine Mittlerrolle zwischen seinem Vaterland und der westlichen Zivilisation innehatte: Über Jahrzehnte hinweg erschien jede neue Erzählung, jeder neue Roman Turgenevs zeitgleich mit der russischen Ausgabe in deutscher, französischer und englischer Übersetzung.“ (7)

Nun aber – Sinzig und Turgenev 1857.

Ivan S. Turgenev kam am 3. Juli 1857 nach Sinzig und reiste am 31. Juli ab – vorzeitig, da man von geplanten fünf bis sechs Wochen ausgehen muss (vgl. S.5 f.). Die Daten sind in der Forschung gesichert und es ist nicht nötig, hierzu weitere Ausführungen zu machen. Von Interesse sind die Gründe, sowohl für den Aufenthalt in Sinzig wie auch für die frühe Abreise.

Im Januar 1857 durchlebt Turgenev eine „physische und moralische Krise; er vernichtet sämtliche Manuskripte und Skizzen.“(8) Infolge seiner physischen Probleme unterzieht sich Turgenev von 1857 an mehrfach Kuren – in der Regel Trink- und Badekuren, in Boulogne – unmittelbar nach dem Aufenthalt in Sinzig – auch einer die kranke Stelle ‚elektrisierenden’ Behandlung. (9) Aus einer Bemerkung Turgenevs, die in beiden Briefen auftaucht, die er am 16. Juli schreibt, kann man entnehmen, dass die Krise weiter zurückgreift als bis in den Januar 1857. An I. I. Panaev formuliert er: „Sonderbar war es für mich, zur Feder zu greifen nach einem Jahr der Untätigkeit.“ (10)

Bevor ich näher auf die Briefe eingehe, die ich nicht in der chronologischen Abfolge betrachten werde, sondern nach thematischen Gegenständen geordnet, sei ein erster, schematischer Überblick über die Inhalte vorausschickt; diese lassen sich cum grano salis Turgenev auf der einen und Sinzig auf der anderen Seite zuordnen (natürlich gibt es Überlagerungen):

  

Über Turgenevs Schreibstil bemerkt Gustave Flaubert, der große französische Schriftsteller, in einem seiner ersten Briefe an den Russen: „Was ich an Ihrem Talent über alles bewundere, ist die Vornehmheit – etwas Großartiges. Sie verstehen es, wahr zu sein ohne Banalität, gefühlvoll ohne Ziererei & komisch ohne die geringste Niedertracht ... Sie erwecken den Eindruck eines gutmütigen Menschen & sie sind sehr stark.“ (11) Ähnlich urteilte der dänische Literaturkritiker Georg Brandes: „Sein [T.s] Grundgefühl ... ist ein starkes und stilles Gefühl, immer gedämpft in seinem Ausbruch. Selten ist ein großer und fruchtbarer Schriftsteller so wenig lärmend gewesen wie er. In dieser edlen und schlichten Haltung ist etwas Aristokratisches“ (12) Noch deutlicher drückt sich A. I. Herzen aus: „Dabei muß man bemerken, daß Turgenev nie starke Farben aufträgt, nie zu energische Ausdrücke verwendet, im Gegenteil, er erzählt mit großer Plastizität und gebraucht immer nur die gebildetste Sprache…“(13) Turgenev selbst charakterisierte 1854 seinen Stil „in seinem Brief an das Journal de St. Petersburg als ‚mesquin’ und ‚maigre’. Diese ‚Kargheit’ (auch ‚Knauserigkeit’) und ‚Magerkeit’ des Stils ist künstlerische Absicht. Sie folgt dem Puškinschen Ideal: ‚Genauigkeit und Kürze´.“(14)

„Kürze und Einfachheit kennzeichnen aber nicht nur Turgenevs Prosa, sondern auch seine Briefe, nicht nur die deutschen, sondern ebenso die in anderen Sprachen und in der Muttersprache geschrieben.“(15) So lautet P. Urbans Urteil.

Einige der Sinziger Briefe – dies sei als ein weiteres Ergebnis vorweggenommen – zeigen uns einen anderen Turgenev. Seine Krankheit, Ärger und Freude lassen ihn, gemessen an den zuvor dargestellten Urteilen (und nicht nur daran gemessen), gelegentlich heftig aus sich herausgehen und jede Zurückhaltung ablegen.

Turgenevs Krankheit, mit der ich beginne, soll nicht Gegenstand medizinischer Überlegungen sein. Sie soll nur aus der Wahrnehmung und Darstellung Turgenevs betrachtet werden. Der Autor spricht von einer „Neuralgie“, die ihm zeitweise offensichtlich erhebliche Schmerzen verursacht. Die Krankheit ist der Grund für die Kur in Sinzig, ihr Verlauf bzw. die Behandlungsergebnisse sind Ursache für den Abbruch derselben.

In den Briefen aus Sinzig geht Turgenev kaum näher auf seinen gesundheitlichen Zustand ein. Nur zweimal wird er deutlich. Sein Brief vom 9. Juli an P. V. Annenkov (Nr. 610) enthält die ausführlichste Darstellung. Turgenev berichtet, dass er trotz großer gesellschaftlicher Aufmerk samkeit, die ihm entgegengebracht wurde, seinen Aufenthalt in England abgebrochen habe, um Heilung zu suchen, und fährt fort: „Sie lächeln vermutlich, aber ich sage Ihnen ganz ernsthaft: die Rückkehr meiner Krankheit hat mich umgebracht: ich bin ein toter Mann – ich fühle es –, ich rieche nach Leiche. Solange diese Schlange an mir nagen wird – kann mich nichts mehr im Leben beschäftigen und ich tauge zu nichts mehr.“ (16) Bezeichnenderweise enthält der Brief an die 15jährige Tochter, am selben Tage geschrieben (!), keine vergleichbare Bemerkung. Einmal noch äußert er sich gegenüber A. I. Herzen, kurz und deutlich: „Meine Gesundheit ist völlig ungenügend; die Blase schmerzt fast ununterbrochen…“ (17) Wenn er sonst über seinen Zustand klagt, bleibt Turgenev nicht nur im Allgemeinen, er ist zudem bemüht, seine Krankheit herunterzuspielen. So wiegelt er insgesamt viermal (je zweimal aus Sinzig und Boulogne) in gleicher oder (leicht) variierter Form ab: „Übrigens, genug davon.“ (18) Dennoch zeigt es sich, dass ihm sein Leiden zusehends mehr zusetzt. Dazu trägt auch bei, dass ein bislang hilfreicher ‚Hoffnungs-Effekt’ offensichtlich verlorengegangen ist: „Besonders bedrückt es mich, dass früher meine Krankheit verschwand oder bemerkenswert abnahm, sobald ich aus Paris abreiste, jetzt aber ruft ein Ortswechsel keinerlei Erleichterung hervor – und ich leide in Boulogne, wie ich in Sinzig litt.“(19)

Schließlich werden seine Darstellungen in den Briefen aus Boulogne nicht nur deutlicher, sie zeigen den Autor in einer geradezu verzweifelten Verfassung, die sich auch in seiner Sprache widerspiegelt. Noch gemäßigt schreibt er an V. P. Botkin: „Zu meinem Bedauern ging es mir äußerst schlecht; meine Krankheit hat mich um 20 Jahre älter gemacht, und wenn ich dir auseinandersetze, worin sie besteht, wunderst du dich nicht über meine Worte. Von der Arbeit, scheint es, habe ich mich für immer verabschiedet.“(20) Dann aber heftig, ebenfalls an Botkin, jedoch acht Tage später – vom Russischen ins Französische und wieder zurück ins Russische wechselnd: „das versichere ich Dir, ich bin nicht mehr gut anzusehen noch anzuhören, in bin nichts als Scheiße, ein Mensch, der von Morgen bis Abend mit den Zähnen knirscht vor Schmerz und Ärger, aber am Abend den Kopf gegen die Wand schlägt – kein Mensch und nicht wert menschlicher Gesellschaft; – ich rieche nach Leiche, und ich bin mir selbst äußerst zuwider geworden.“(21) Das ist nicht „gedämpft im Ausdruck“; unverstellt gibt ein gepeinigter Mensch seiner Qual Ausdruck.

Doch zurück nach Sinzig.

Wieso beginnt Turgenev eine Kur in diesem weitgehend unbekannten Städtchen? Schließlich schreibt er selbst in seinem ersten Brief von hier: „Sinzig findet sich auf keiner Karte. Es ist ein sehr kleines Loch …“(22) Nun – wir erfahren sowohl eine medizinische wie eine persönliche Erklärung; zunächst ganz einfach: „Es ist mein Arzt in Dresden, Hedenus, der mich hierher geschickt hat – ich habe ihn konsultiert, nachdem ich Nekrassoff nach Berlin zurückbegleitet hatte.“(23) In der Moskauer Ausgabe der Briefe von 1987 wird in der Anmerkung 3 zum Brief an A. A. Trubeckoj (Nr. 609) angegeben, dass T. zwischen dem 15 (27). 6. und dem 20. 6. (2. 7.) 1857 Nekrasov von Paris nach Berlin begleitete. (24) Anschließend muss er demnach in Dresden gewesen sein – und relativ kurzentschlossen die Reise nach Sinzig angetreten haben.

Die medizinische Begründung für Sinzig betrifft im engeren Sinne das Vorhandensein einer Heil-Quelle, die den Quellen von Bad Ems offensichtlich als ebenbürtig galt.(25) „1853 wurde die längst bekannte Kohlensäuremineralquelle neu erschlossen und ein schönes Badehaus errichtet.“(26) Aber erst 1857 wurde der Ort zu ‚Bad Sinzig’ erhoben.

Turgenev beginnt schnell mit der Kur; sechs Tage nach seiner Ankunft schreibt er an die Tochter: „... ich trinke viel Wasser, ich nehme jeden Tag Bäder – ich erfülle, mit einem Wort, alle Vorschriften des Arztes, um zu versuchen, mich zu heilen, und um diesen Ort in fünf Wochen verlassen zu können …“(27) Am 16. Juli berichtet er I. I. Panaev: „... ich befinde mich in der Stadt Sinzig ... und trinke [Heil-] Wasser. ... darüber hinaus nehme ich Bäder. Ich bleibe hier bis zum 20. August.“(28) Während er also im Brief an die Tochter von einem etwa fünfwöchigen Aufenthalt ausgeht, fasst er den Zeitraum an Panaev noch weiter. Tatsächlich aber reist er bereits am 31. Juli 1857 ab, vorzeitig, wie oben schon vorweggenommen.(29)

Man kann die Änderung seiner Verfassung und damit der geplanten Verweildauer an seinen Beschreibungen ablesen, die er den Wirkungen der Wässer und der Kur widmet. So befallen ihn nach der ersten, ganz neutralen Erwähnung der Sinziger Wasser und den Vergleichen mit den Emser Quellen schon früh Zweifel. Nur sechs Tage nach seiner Ankunft schreibt er an den Freund Annenkov: „Ich weiß nicht, ob mir das hiesige Wasser hilft – aber, wie zum Trotz, es ging mir hier um Vieles schlechter – man hat mir versichert, dass dies immer die anfängliche Wirkung des Wassers sei, aber ich habe es verlernt, den Ärzten zu glauben.“(30) Am 17. Juli notiert er die Besserung seines Zustandes: „Meinerseits sage ich dir, dass mir, wie es scheint, die hiesigen Wasser und Bäder helfen; zunächst wurden meine Schmerzen schlimmer, aber jetzt wird es mit jedem Tag leichter, mir scheint, dass das weiter geschieht.“(31) Schon Fünf Tage später bröckelt die Hoffnung wieder: „... mir scheint, dass die Sinziger Wasser mir nicht im Gering-sten helfen.“ Mit unverkennbar schmerzlicher Ironie fährt er fort: „Bei anderen wirken sie Wunder; mein Nachbar, ein Engländer, kam hierher ‚ohne Beine’ – völlig unbeweglich – doch jetzt klettert er auf die Berge. Welch ein Glück für ihn.“(32) Bereits am 25. Juli äußert er sich gegenüber der Comtesse E. E. Lambert nur noch negativ – und bezeichnet entsprechend der Wirkung der Quelle auch Sinzig negativ: „... ich schreibe Ihnen aus einem sehr schlechten Städtchen am linken Ufer des Rheines, ..., wohin ich vor drei Wochen gereist bin, um Wasser zu trinken und mich zu heilen – und stellen Sie sich vor, es zeigt sich, dass mir die hiesigen Wasser schaden und ich mich übel befinde – ich bin gezwungen, von hier abzureisen …“(33), eine Feststellung, die er am 29. 7. seinem Freund Botkin gegenüber – wiederum in ähnlicher Darstellung – bekräftigt: „Ich muss dir sagen, dass die hiesigen Wasser mir zusammen mit Vorteilen definitiv Schaden zufügen, und ich habe mich heute dazu entschlossen, dass ich ebenfalls ans Meer abreise; …“(34) Am 31. Juli war es also so weit.

Doch noch einmal: warum Sinzig?(35) - Oder: Turgenevs persönliche Begründung. Diese liegt in seinem Ruhebedürfnis. In seinem ersten Brief aus Sinzig schreibt er an A. A. Trubeckoj: „Ich habe es vorgezogen hierhin [Sinzig] zu gehen, um der Menschenmenge zu entgehen – und in der Tat gibt es hier nicht den Schatten einer Menschenmenge – wir sind nicht mehr als 80 Kurgäste und niemals sieht man mehr als 10 zusammen.“(36) Gegenüber Pavel V. Annenkov äußert er sich drei Tage später zu seiner Entscheidung – Ems oder Sinzig – : „Ich habe S[inzig] vorgezogen – hier gibt es fast niemanden ...“(37) Sehr ähnlich begründet er seine Wahl gegenüber der Tochter Paulinette und Maria N. Tolstoj sowie dem Freund Aleksandr I. Gercen (Herzen) – „und ich bin darüber froh“, ergänzt er im Brief an Herzen.(38) Er denkt gelegentlich sogar daran, auf Grund der äußeren Ruhe etwas zu arbeiten – erstmals seit langer Zeit, wie bereits bemerkt: „Il y a fort peu de monde ici – et par conséquent peu de distractions; – rien ne m’empêche de travailler.“(39)

Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein – vor allem, wenn er die Fußnoten verfolgt hat – dass immer wieder die Formulierung auftaucht „ähnlich an ...“ Dies sei (zumal es sich im Folgenden fortsetzen wird) als eine dritte Erkenntnis aus der Beschäftigung mit Turgenevs Briefen notiert: der Autor ist ein ‚ökonomischer’ Briefschreiber, der sich nicht scheut, Dinge, die ihm sagenswert erscheinen, in einmal gewonnenen, nur leicht variierten Formulierungen gegenüber verschiedenen Adressaten wiederzuverwenden. Das hängt sicher z. T. auch damit zusammen, dass Turgenev des öfteren mehrere Briefe an einem Tag schreibt. Nur vier der Sinziger Briefe sind ‚alleine’ geschrieben (Nr. 609, 614, 615 und der erste Teil von 622). Je zwei Briefe gibt es vom 9. Juli (Nr. 610 und 611), vom 16. Juli (Nr. 612 und 613), vom 24. Juli (Nr. 616 und 617, wobei hier ein Sonderfall vorliegt, dazu später); am 29. Juli sind es schließlich drei Briefe (Nr. 618, 619 und 620). Man kann jedoch feststellen, dass die Wiederverwendung von Aussagen in ähnlichen Formulierungen sich nicht auf Briefe ‚vom gleichen Tage’ beschränkt, sondern darüber hinaus greift. Das zeigt deutlich, dass Turgenev in der Regel nicht nur ‚ökonomisch’ schreibt, sondern auch keine künstlerisch überformten, auf Veröffentlichung ausgerichteten Briefe gestaltet, sondern sich in spontaner ‚Alltäglichkeit’ an seine Adressaten wendet.

Ein großer Teil dieser Adressaten ist inzwischen genannt worden, ein zusammenfassender Über-blick über alle Brief-Empfänger mag indes helfen, ein wenig die Orientierung für den weiteren Verlauf der Betrachtungen zu festigen. Die Briefe gehen an folgende Personen (in der Reihenfolge der Datierungen und mit Angabe der verwendeten Sprache):

aus Sinzig: Anna A. Trubeckoj (frz., Nr. 609); Pavel V. Annenkov (russ., Nr. 610); Pauline(tte) Turgenev (frz., Nr. 611); Ivan I. Panaev (russ., Nr. 612); Maria N. Tolstoj (russ., Nr. 613); Aleksandr I. Gercen (Herzen), (russ., Nr. 614 und Nr. 615); Louis Viardot, zusammen mit Pauline Viardot, (frz., Nr. 616 / Nr.617); Vasilij P. Botkin, (russ., Nr. 618); Eduard Dentu, (frz., Nr. 619);  P. Viardot, (frz., Nr. 620)

aus Boulogne sur mer: V. P. Botkin, (russ., Nr. 621)

aus Sinzig und Boulogne sur mer: Elisabeta E. Lambert, (russ., Nr. 622)

aus Boulogne, mit Rückverweisen auf Sinzig: V. P. Botkin, (russ., Nr. 623); Dmitrij Jakovlevič und Elisej Jakovlevič Kolbasin, (russ., Nr. 624); A. A. Trubeckoj, (frz., Nr. 625); V. P. Botkin, (russ., Nr. 626 und Nr. 627)(40)

Mit Ausnahme des Briefes an Eduard Dentu (Nr. 619, eine rein geschäftliche Antwort auf eine Zuschrift) wendet sich Turgenev an engere Freunde und die Tochter, um ihnen mitzuteilen, wo und wie er sich befindet. Das ist in seiner Situation und Verfassung nicht anders zu erwarten.

Da seine Entscheidung für Sinzig gefallen war, das wohl keiner der Adressaten kannte, ist es naheliegend, dass Turgenev (in den ersten fünf Briefen, einmal noch kurz im 10. Brief) die Lage von Sinzig – die Möglichkeit, es auf einer Landkarte zu finden – mehr oder weniger ausführlich und in recht ähnlichen Beschreibungen mitzuteilen sucht.

In den beiden ersten Briefen (Nr. 609, an A. A. Trubeckoj, Nr. 610, an P. V. Annenkov) ergänzt er seine Worte mit einer je eigenhändigen Skizze, die er für unverzichtbar hält. „Der vorstehende Plan, liebe Prinzessin, ist unerlässlich, um Ihnen verständlich zu machen, wo ich mich seit drei Tagen befinde – Sinzig ist auf keiner Karte zu finden.“ – schreibt er an Anna A. Trubeckoj.(41) Annenkov gegenüber äußert er sich entsprechend.(42) Die beiden Skizzen, die Turgenev seinen Briefen voranstellt (a) bzw. einfügt (b), sollen also helfen, dieses kleine Städtchen Sinzig geographisch einigermaßen verorten zu können. Sie werden bei Dornacher und Deres erwähnt, aber nicht gezeigt,(43) sie sind in der Moskauer Ausgabe natürlich abgedruckt. Dort heißt es in der Anmerkung 1 zu dem Brief an A. A. Trubeckoj: „Fast dieselbe Skizze ist enthalten im Brief an P. V. Annenkov vom 27 Juni (9. Juli) des Jahres 1857 (s. Brief Nr. 610).“(44) Das aber ist zu ungenau, es lohnt sich ein genaueres Hinsehen:

 

a) Brief vom 6. 7. 1857 an A. A. Trubezkoj (französisch beschriftet)

 

b) Brief vom 7. 7. 1857 an P. V. Annenkov ( russisch beschriftet)

Abgesehen von der Ausrichtung der Skizzen (waagerecht/senkrecht – was der geographischen Situation entspricht), ist in (b) zusätzlich die Ahr eingetragen („река Ара  (Ahr“). Allerdings irrt der Autor, da er Sinzig an das falsche (linke) Ahr-Ufer verlegt! Es gibt aber die Möglichkeit, diesem Irrtum zumindest mit dem Versuch einer Erklärung ein wenig auf die Spur zu kommen. Turgenev wohnte während seines Aufenthaltes in Sinzig im ‚Badehaus’. Dieses Haus – alleine stehend, neben/an der Quelle gelegen(45) – befand sich außerhalb der Stadt am linken Ufer der Ahr. Das mag Turgenevs Wahrnehmung von Sinzigs Lage ein wenig irritiert haben.(46)

Die verschiedenen Beschreibungen, die Turgenev von der Lage des Ortes gibt, weichen nur in Details voneinander ab, sind dadurch aber unterschiedlich genau. In den Briefen an A. A. Trubeckoj und P. V. Annenkov erreicht er die Genauigkeit vor allem durch seine Skizzen. An Annenkov fügt er jedoch hinzu: „Bitte, Sie finden auch Remagen nicht auf der Karte, dann schauen Sie auf Andernach und wissen Sie, dass es ganz nahe von dort [hierher] ist.“(47) An die Tochter Pauline beschreibt er, gewissermaßen ihren Finger auf einer imaginären Karte führend, recht genau das, was er zuvor gezeichnet hatte. Dadurch wird diese Darstellung die ausführlichste:

„Si tu veux savoir où je me trouve, chère Paulinette, prends une carte de l’Allemagne, et puis trouve le Rhin; cherche sur sa rive gauche la ville de Coblence, – un peu plus loin tu verras une autre ville qui se nomme Bonn; entre ces deux villes, toujours par la rive gauche, il y a un petit endroit qui se nomme Remagen; eh bien, Sinzig est à une demi-lieue de Remagen, – mais je doute fort que ta carte soit assez détaillée pour qu’il s’y trouve.“(48)

Die Referenz-Orte sind jeweils Koblenz – Remagen – Bonn und das linke Rheinufer. Im Brief an Maria N. Tolstoj wird er etwas ‚großzügiger’: „Sinzig – ein kleines Städtchen 3 Werst vom Rhein entfernt, nicht weit von dem am linken Rheinufer gelegenen Städtchen Remagen, auf halber Strecke zwischen Koblenz und Köln.“(49) Man kann nur spekulieren, warum er in diesem Fall Köln wählt. Sicher ist dies der größte Ort in der Reihe der Bezugspunkte. In den Briefen an I. I. Panaev (Nr. 612) und an E. E. Lambert (Nr. 622, 1. Teil) gibt er lediglich Bonn, bzw. Koblenz als Orientierungshilfe an.

Die Adressenangaben unterscheiden sich nur in der Sprache: Französisch oder Deutsch (hier mit Orthographie-Varianten); als Beispiele seien aufgeführt:

„Sinzig, bei Remagen am Rhein, Regierungsbezirk Coblentz“ (Brief vom 6. 7 1857, Nr. 609, Письма III, S. 230)

„Prusse Rhénane, Sinzig, près de Remagen sur le Rhin“ (Brief vom 9. 7. 1857, Nr. 611, Письма III, S.233)(50)

Unter den eingangs genannten Briefgegenständen mag das Stichwort „Diverse“ sich nach „Allerlei/Vielerlei“ anhören, es ist aber auf nur wenige Aussagen beschränkt. Insbesondere betreffen diese die Zeit unmittelbar vor Turgenevs Aufenthalt in Sinzig. Sie werden im zweiten Brief (Nr. 610, an Annenkov) und ganz kurz im Schreiben an M. N. Tolstoj dargelegt; es handelt sich um seinen Aufenthalt in England: „Dank einiger erfolgreicher Empfehlungsschreiben machte ich viele angenehme Bekanntschaften, von denen ich nur Carlyle, Thackeray (der ihm wenig gefallen hat, wie er M. N. Tolstoj mitteilt(51), Disraeli und Macaulay erwähne;“(52) Palmerstone und Prinz Albert hätte er vorgestellt werden sollen, was jedoch wegen des vorzeitigen Abbruchs seines Englandaufenthaltes (aus den gesundheitlichen Gründen) nicht zustande kam.(53) Er selbst „entschied, solche Bekanntschaften zu schließen, auf günstigere Zeiten zu verschieben und abzureisen, um Heilung zu suchen.“(54) Das zeigt, wie berühmt und anerkannt, aber auch wie unabhängig Turgenev war. Er kommt mit den Größen seiner Zeit aus Kunst, Wissenschaft und Politik zusammen, bestimmt aber frei über sich selbst.

Außerdem hat er sich in Manchester eine Gemäldeausstellung angesehen und ist positiv überrascht: „... die Engländer haben einen viel besseren Eindruck auf mich gemacht, als ich erwartete – das sage ich nicht etwa, weil ich mit Prinzen bekanntgemacht wurde: sie sind wirklich ein großes Volk.“(55)

Zwei aktuelle, auf Russlands Innenpolitik bezogene Aussagen schließen diesen Themenbereich ab. Zur bürgerlichen Freiheit im Lande äußert er sich gegenüber Aleksandr I. Herzen: „Fürst Dolgorukov, der an die Stelle von Orlov getreten ist, erweist sich als großer Obskurant; die Gendarmen mischen sich wieder in das private Leben ein, in familiäre Angelegenheiten u. s.w.“(56) Seine zweite Stellungnahme betrifft die Frage der Leibeigenschaft, über die sich öffentlich zu äußern, innerhalb von Russland seit 1842 verboten war.(57) Turgenev hatte dieses Thema erstmals in den Aufzeichnungen eines Jägers literarisch berührt. (58) An Maria N. Tolstoj schreibt er aus Sinzig u. a. über seine Zukunftspläne. Er hofft auf ein mögliches Wiedersehen mit ihr in Russland, und zwar im September des Jahres (1857), und bemerkt in diesem Zusammenhang: „Es wird nötig sein vor Ort über die Frage der Leibeigenen nachzudenken, ja nicht nur nachzudenken, sondern auch irgendetwas zu unternehmen. Zumindest muss man diese Sache beginnen.“(59) Er kennt im übrigen aus nächster Anschauung die Probleme dieser Bauernschaft.  Seine eigene Mutter liefert z. T. erschreckende Beispiele. Man kann das z. B. im 1. Kapitel der Biographie nachlesen, die H. Troyat 1985 vorgelegt hat.(60) - Turgenev scheint nicht bereit, die Dinge auf sich beruhen zu lassen.

Auch geschäftliche Angelegenheiten nehmen in der Sinziger Zeit keinen allzu großen Raum ein. Im Schreiben an den Herausgeber E. Dentu (Nr. 619) geht es lediglich um die Zu- bzw. Rücksendung von Korrekturfahnen. Turgenev hat sie (zu) spät erhalten, sendet sie bereits einen Tag später zurück, ohne viel zu korrigieren und erweist sich dennoch als guter Kenner der französischen Sprache. Er berichtigt, wenn er auch höflich einschränkt „glaube ich“, ein falsches ‚genêts’ (Ginster) zu dem richtigen ‚guérets’ (Stoppelfelder), ein Ausdruck, der selbst für einen Schriftsteller – in einer Fremdsprache – nicht gerade zum täglichen Sprachgebrauch zählt.(61) Er hofft im übrigen, dass Dentu „diese Textproben gleichzeitig an den Übersetzer Delaveau geschickt [habe], denn ich bin nicht stark, bei den Coquillen [typografischen] und anderen Druckfehlern.“(62)

I. I. Panaev teilt er am 16. 7. (Nr. 612) mit, dass er Nekrasov gebeten habe, ihm 250 oder 300 Silberrubel als Vorschuss auf künftige Arbeiten nach Sinzig zu senden. Wobei dieser Transfer über „irgend einen Frankfurter Bankier“ in Bonn abgewickelt werden soll. Gleichzeitig fragt er nach der endgültigen Zahl der Abonnenten des Sovremennik, der literarischen Zeitschrift, an der er sich u. a. auch mit Nekrasov beteiligt.(63)

Zwei weitere Angelegenheiten laufen über A. I. Herzen. Zum einen hat dieser Geld an den Übersetzer Delaveau geschickt. Dafür bedankt sich Turgenev: „zuvörderst Dir eine Verbeugung bis zum Boden für die Sendung von 250 Fr. an Delavau.“(64) Zum anderen geht es um ein Gewehr, das Turgenev als Geschenk für Nekrasov bei dem Londoner Büchsenmacher Lang bestellt hat. Herzen, der sich zu dieser Zeit in England befindet, möge die Sache zunächst für ihn erledigen – „deiner alten Gewohnheit entsprechend: hat man [die Barthaare] zum Schnurrbart ernährt, [kann man sie auch] zum Vollbart ernähren.“(65) - also geduldig und großzügig. Gleichzeitig sagt er zu, dass er Mitte August von Paris aus seine Schulden begleichen werde. Amüsant und beachtlich, dass Turgenev, der Herzen die zu erwartende Rechnung erläutert, die Rückgabe eines Hundes mit 17½ Pfund als Guthaben verrechnet. Später spricht er davon, sich einen neuen Hund kaufen zu wollen (Nr. 620).

Aber es steht ihm auch erheblicher geschäftlicher Ärger ins Haus (Brief Nr. 615), der zugleich einen Hinweis darauf gibt, wie gut man ‚mit Turgenev’ 1857 schon Gewinn machen konnte. Es geht um einen Zahlungsausgleich zwischen Herzen, Nekrasov und Turgenev.(66) Ohne auf weitere Einzelheiten einzugehen,(67) sei lediglich erwähnt, dass Turgenev dem Kollegen und Freund Nekrasov für 1000 Silberrubel die Rechte für eine zweite Auflage der Zapiski ochotnika verkaufte. Dieser veräußerte das Manuskript – und damit die Veröffentlichungsrechte – umgehend an den Petersburger Herausgeber (und Buchhändler) Basunov für 2500 Rubel! Und das, obwohl es wegen der Zensur noch völlig offen war, ob diese Ausgabe zustande kommen würde. Turgenev war – nach seinen eigenen Worten – erfreut über den Gewinn für Nekrasov, ist aber deutlich verärgert über dessen Äußerung, dass er ihm noch Geld schulde(68), und erwägt die Rückforderung des Manuskriptes. „Das alles ist in der Tat unangenehm – ... Nein, [ganz] entschieden, ohne Ehrlichkeit kann man nicht existieren – wie ohne Brot.“(69) Im übrigen kündigt er die Begleichung seiner Schulden (vgl. Nr. 614) für den nächsten oder übernächsten Tag an, bzw. bei der ersten Fahrt nach Bonn. Bei allem Ärger, zeigt sich hier die ihm zugeschriebene Mäßigung in der Wortwahl, die Abneigung, zu ‚lärmen’; er lässt sich aber recht breit über diese Angelegenheit aus und zeigt so, wie sehr sie ihn wurmt.

Ganz anders hingegen sehen seine Äußerungen über Avdotia Jakovlena Panaev aus.(70) Zu ihr hat er wohl nie ein problemloses Verhältnis gewinnen können – aber auch ihrerseits bestanden Ressentiments.(71) Turgenev hatte kurz vor seiner Reise nach Sinzig Nekrasov und dessen Frau von Paris nach Berlin begleitet. Sein Ärger muss auf dieser Reise groß gewesen sein, denn als er am 6. 7. 1857 seinen ersten Brief aus Sinzig an A. A. Trubeckoj schreibt, erläutert er zunächst die Lage des Ortes, weist auf dessen Abgeschiedenheit hin und drückt die Hoffnung aus, wieder arbeiten zu können. Schließlich vermag er nur noch festzustellen, dass sein Arzt Hedenus ihm Sinzig empfohlen habe und schon verfällt er mit Vehemenz auf die Panaeva. Zugegeben, dieses Kapitel gehört zu ‚Klatsch und Tratsch’, aber es ist amüsant zu lesen: „Seine Schöne begleitet ihn [Nekrasov]. Das ist eine Schnur um den Hals, das Elend seines Lebens {dass} diese Schöne, die überhaupt nicht schön ist und niemals schön war. Ich habe auf der Reise entdeckt, dass beide eine feine Gewohnheit angenommen haben, die eine zu quälen, die andere gequält zu sein; mein Gott, wenn sie das verbindet. Mithridates lebte gut mit Giften.(72) Aber ich gestehe, dass ich diese dicke Mme. Panaev verabscheue. Stellen Sie sich vor, sie hat Nervenanfälle mit Zwischenakten [Pausen], hervorgerufen durch die Ankunft eines dritten Zuschauers, einer Modeverkäuferin etc. Und Nekrasov, der doch einen guten Verstand hat, sieht dort nur Feuer. Mme. PANEV(73) weckt in mir den Russen, von der Art, die selbst den Prinzen zufriedenzustellte(74), jedes Mal, wenn ich sie sehe, fühle ich in mir Anwandlungen, einen großen, richtig harten Knüppel zu nehmen und sie dort zu schlagen, wo sie die größte ... Oberfläche hat zum Schlagen; und sie hat überall und viel von dieser Oberfläche!“(75) Der Ärger hält etliche Tage an, denn am 9. 7. bemerkt er gegenüber Annenkov: „Er [N.] ist ein sehr unglücklicher Mensch: er ist immer noch verliebt in dieses grobe und abscheuliche Frauenzimmer – und sie bringt ihn bestimmt um den Verstand.“(76) Noch am 16. Juli rumort es in ihm: „Ich habe Nekrasov nach Berlin begleitet. ... Er reiste mit seiner Frau Panaeva ..., die ihn auf eine höchst vorzügliche Weise peinigt. Dieses grobe, dumme, boshafte, kapriziöse, jede Weiblichkeit entbehrende Wesen, aber nicht ohne robuste Koketterie (das sei unter uns gesagt) – besitzt ihn wie ihren Leibeigenen. Und wenn er doch auch um ihret Willen verblendet wäre! Andernfalls – nein. Aber das [ist] – eine bekannte Sache: das ist immer ein Geheimnis – oder, richtiger gesagt – Unsinn. Hier kann niemand etwas ergründen, aber wer hineingeraten ist – der soll die Suppe auslöffeln, mehr noch, er soll, um Gottes willen, nicht jammern.“(77) Eine solche Häufung von Adjektiven („diese grobe, ...“) z. B. wird man in Turgenevs literarischen Texten vergeblich suchen. Das ist nicht der Meister der „Kürze und Einfachheit“, der sich solchermaßen noch mehr als zwei Wochen später gegenüber M. N. Tolstoj auslässt. Hier zeigt sich – ironisch und deftig – ein erzürnter und sehr emotional reagierender Mensch.

Das, was man aus den Sinziger Briefen über Tolstoj erfährt, kann man ebenfalls – zumindest teilweise – dem Tratsch zurechnen, doch kommt – bei aller Spannung, die zwischen den beiden herrscht(78) - noch ein anderer Aspekt zum Tragen: Hilfsbereitschaft und auch Freundschaft.

Zunächst teilt Turgenev P. V Annenkov mit, dass „Tolstoj sich in der Schweiz befindet, im Kanton Vaud, in Clarens ... Er ist sehr zufrieden mit seinem Aufenthaltsort, streift durchs Gebirge, arbeitet, ist gesund und fühlt – nach seinen Worten – wie ihm die Schönheit [der Natur] durch die Augen in die Seele dringt, gleichsam eine physische Wahrnehmung. Gebe es Gott! Er muss es wissen. Ich habe ihm von hier geschrieben, ich weiß nicht, ob er mir antwortet.“(79) Kürzer, aber wiederum ähnlich, bescheidet er M. N. Tolstoj über ihres Bruders Aufenthalt. (Nr. 613)(80)

Warum L. Tolstoj nicht nach Sinzig kam – ein schöner Titel für eine historisierende Heimatgeschichte? Nein – historisch zu begründen:

Knapp 14 Tage nach dem Bericht über Tolstoj in der Schweizer Idylle sieht alles anders aus. Mit zunächst nüchternen Worten schreibt Turgenev an V. P. Botkin, er habe am 29. 7. „einen Brief von Tolstoj aus Baden[-Baden] [erhalten], in dem er mir mitteilt, dass er beim Roulette alles bis auf die letzte Kopeke verloren hat, er bittet, schnell 500 Francs zu senden u. s. w.“(81) Kurz gesagt: Tolstoj war auf dem Wege nach Sinzig, aber „unterwegs machte er einen Abstecher nach Baden[-Baden] – und ging zugrunde.“(82) Das ist zwar nur bildlich, dafür aber drastisch gesprochen. Turgenev hat offensichtlich kein (über)flüssiges Geld (zumindest nicht für Roulettspiele). Sich schon in der Phase befindend, in der er feststellt, dass ihm die Sinziger Wasser mehr schaden als nutzen, will er jedoch als Freund handeln: „... ich reise morgen nach Baden, hole ihn von dort weg und versuche ihn zu überreden, mit mir über Straßburg und Paris nach Fécamp zu fahren – ich denke, dass es auch für ihn nicht schlecht ist, sich eine Weile mit Meeresbädern zu kurieren.“(83) - Meeresbäder gegen Roulette-Schäden! Allerdings koste diese Fahrt 200 Francs (für Tolstoj).

Erstmals abweichend von seiner sonstigen Verfahrensweise einer ‚ähnlichen Mitteilung’, behandelt er die Angelegenheit in seinem Brief an Pauline Viardot ganz neutral: „Hier also, was ich tue: Morgen fahren ich nach Baden, wo ich mich mit Graf Tolstoj treffe – ich kaufe mir einen neuen Hund – (Sie sehen, dass ich unverbesserlich bin!) und ich gehe geradewegs via Straßburg und Paris nach Dieppe oder Boulogne.“ Das ist alles – rücksichtsvoll spielt er die für Tolstoj peinliche Episode völlig herunter.(84)

Im ersten Schreiben aus Boulogne, das an seinen Freund Botkin gerichtet ist (Nr. 621), führt Turgenev die Geschichte etwas weiter aus und schildert die Geschehnisse um Tolstoj offen und ‚schonungslos’: „Ich schrieb Dir, dass ich bereit war, ihn aus Baden wegzubringen und mit ihm zu Dir zu reisen. Aber es kam völlig anders – ich fand ihn, als er verloren hatte und nach Kräften < ... >. Er saß in Baden wie in einem Strudel, und völlig verwirrt. Ich schlug ihm vor, mit mir abzureisen, und er stimmte zu – als er unerwartet einen Brief von zu Hause erhält, in dem man ihn davon in Kenntnis setzt, dass seine Schwester, nicht länger im Stande, mit ihrem Mann zusammenzuleben, der 4 Geliebte hatte u. s. w., in die Wohnung seines Bruders Nik Nikolaevič umgezogen ist. ... Tolstoj entschied sich nach der Lektüre dieses Briefes, sofort nach Russland zu reisen (man ruft ihn auch dorthin). ... Der Arzt gab seinerseits Instruktionen und Pillen – und am Sonnabend wird Tolstoj schon aus Stettin mit dem Schiff nach Petersburg fahren.“(85)

Turgenev hat dieser Entscheidung natürlich zugestimmt. Da er jedoch kein eigenes Geld zur Verfügung hat, wendet er sich – erfolgreich – an N. M. Smirnov, um von diesem das benötigte Geld für die Reise zu leihen. Trotz Smirnovs Hilfe wird dessen Ehefrau, A. O. Smirnova, im Brief an Botkin in einem nicht näher motivierten Seitenhieb mit einer deftigen Bemerkung bedacht – wenig vornehm.(86) Seinen Freundschaftsdienst konnte Turgenev somit gewissermaßen nur zur Hälfte verwirklichen. Und Tolstoj kam nie nach Sinzig.(87)

Bei meiner Charakterisierung der Briefe als ‚alltäglich’, nicht literarisch gestaltet, habe ich zu Beginn die Schreiben an Louis und Pauline Viardot ausgenommen. Während man in allen anderen Briefen feststellen kann, dass Turgenev seine Gegenstände ohne jede Überleitung wechselt – man könnte auch sagen ‚sprunghaft’ –, lässt sich für (die Nr. 616 und) die Nr. 617 eine Gestaltung aufzeigen, der man durchaus eine künstlerische Absicht unterstellen kann, ohne damit zu weit zu gehen. Die beiden Briefe sind bis zu einem gewissen Grade als Einheit zu sehen, werden sie doch am selben Tage und aus demselben Anlass geschrieben. Und der zweite (‚Pour Madame Viardot’) wird dem ersteren beigelegt. Die Freude über die Geburt eines Sohnes in der Familie Viardot (nach drei Töchtern) ist das Generalthema – und ‚radoter’(‚Unsinn reden’) aus Freude und des Alters wegen, wie Turgenev es selbst benennt, ist die Grundhaltung, die insbesondere dem zweiten Brief eignet.

An Paul Viardot, den Vater(88), schreibt Turgenev zwar herzlich („Ich beginne damit, Sie zu umarmen und Sie zu beglückwünschen…“(89), aber auch kurz; er bedankt sich für die Nachricht und spricht über die Freude Viardots, nach drei Töchtern nun auch einen Sohn zu haben, spricht von vergangenen schweren Zeiten, doch jetzt „... müssen Sie sehr glücklich sein: ‹Lerchen singen in Ihrem Herzen›, wie es ein russisches Sprichwort ausdrückt.“(90) Außerdem solle man versuchen, dass die Mutter schnell wieder auf die Beine komme – des Kleinen wegen – und der werde seinen Weg in die Welt schon machen. Mit nochmaligen Glückwünschen für alle schließt er nüchtern: „Jean Tourgéneff“.

Der Brief an die Mutter (Nr. 617, vom 24. 7. 1857) ist länger und zeigt in Inhalt und Struktur Merkmale, die ich als literarisch gestaltet bezeichnen möchte: Es gibt u. a., wie man im nachstehenden Schema erkennen kann, strukturell wirksame Verklammerungen:

 

Die anfänglichen, accumulierten Hurra- und Vivat-Rufe (1.) werden am Ende wieder aufgenommen – und nachdem sie anfangs über englisch, russisch, deutsch, lateinisch, italienisch und griechisch ins Französische übergehen, wird ihnen in der verkürzten Wiederaufnahme (9.) ein herrliches „Alaaf Köln!“ hinzugefügt, zwar nicht in die Jahreszeit passend, doch „das ist ein Freudenschrei, den man nur in Köln gebraucht, aber ich finde, dass er gut tut.“(91), setzt Turgenev hinzu, um dann zu schließen mit „Allah il Allah Rezul Mohammed Allah!!” – man ist versucht zu sagen, er hat die Zukunft nicht nur im Lexikon von 1950 gelesen. Die erbetene Beschreibung des Kindes (2.) findet ihre Korrespondenz in dem ‚kleinen Stapel von Briefen’ (8.), und nicht nur darin, sondern auch in der variierten Wiederaufnahme der Äußerung des Kindes, nun mit Anspielung auf die Profession der Mutter: Musik.

Dem ‚je radote’ (3.) und seinen Implikationen, nicht nur in Form einer ‚Prophetie’ (7.), möchte ich mich abschließend zuwenden und komme zunächst zur ‚Mitte’ des Briefes (4., 5., 6.). Hier finden wir Mutter und Kind als zentrale Gestalten: zunächst aber den Boten, der sein Botengeld für „Rheinwein (nicht Bier, unter keinen Umständen)“ erhält, um ebenso wie Turgenev auf das Wohl des Kindes anzustoßen (4.), dann Gedanken über die Mutter und ihre Gesundheit (5.) und schließlich Mutter und Kind in ihrer glücklichen Einheit (in sehr schöner Formulierung: „dieses kleine Sein, das, noch gestern, Sie waren, und das jetzt schon ein Leben hat, einen Beginn des Denkens, eine Individualität für sich, ...“(92) (6.))

Turgenev schreibt also (vgl. 3.): „Ich rede ein wenig Unfug, das ist aber entschuldbar mit meinem Alter und meiner Freude aufgrund der großen Neuigkeit.“(93) Sicher gehört 2.2 zu diesem „Unfug“: „Die Mitteilung der höchst geistreichen Wörter, die er bereits hervorgebracht haben wird.“(94) Dazu gehört auch, rhetorisch hervorgehoben durch die Verwendung einer Metonymie, dass er als Mann eine dreifache Mutter (!) glaubt aufmuntern zu müssen: „Was die Gesundheit der Mutter betrifft, Sie werden sehen, dass Sie in zwei oder drei Tagen nicht mehr liegen bleiben wollen und wenn sie nicht in einer Woche tanzen, ist es [nur] weil Sie andere Dinge im Kopf haben.“(95) Natürlich ist auch die Zukunftsvision (7.) diesem ‘radoter’ zuzuordnen: „Ich werde Prophet, ich lese im Dunkel der Zukunft, im Konversationslexikon von 1950: Viardot (Paul, Louis, Joachim), berühmter ... (ich lasse das worin offen), geboren in Courtavenel en Brie, usw. usw., Sohn der berühmten Pauline Garcia, usw. usw. und des genialen Schriftstellers und Übersetzers des ‚Don Quichotte’. Ich will nicht den ganzen Artikel zitieren.“(96) Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass Turgenev nur auf die ‚berühmten’ Eltern anspielt und für die Zukunft des Kindes ebenfalls nur das ‚célèbre’ (berühmt) anführt, dieses aber inhaltlich bewusst offenlässt.

Bleibt der unübersehbare Fehler (2.3) bei der Bitte um Beschreibung des Geburtstages, den Turgenev auf den 20. Juni (!) ‚verlegt’, „ein revolutionäres Datum, das der kleine Sans-culotte ausgesucht hat, um seinen Eintritt in die Welt zu vollziehen.“(97) Die entscheidende Frage lautet: Irrtum oder Absicht? Louis Viardot war erklärter Republikaner und Anfeindungen seitens der 1849 wiedererrichteten Monarchie ausgesetzt. In der Anmerkung 2 zu diesem Brief heißt es in der Moskauer Ausgabe: „Man muss sich der Auffassung von A. Zviguilsky anschließen, der dafürhält, dass der Fehler Turgenevs einen vorsätzlichen Charakter hat: Turgenev spielt auf die Ereignisse des 20. Juni 1792 an, als eine Demonstration der Pariser Volksmasse stattfand“(98), das „Schwellenereignis“ („преддверие событиe“) für den 10. August. Mit der (absichtlichen) Verlegung des Geburtstages auf dieses Datum habe Turgenev auf die republikanische Gesinnung der Familie Viardot anspielen wollen.(99) Der 20. Juni ist in der Tat ein wichtiges Datum in der Geschichte der französischen Revolution, das allerdings dreimal auftaucht – und jedesmal ‚bedeutend’: Am 20. Juni 1789 findet der sogenannte Ballhauschwur statt, die ‚verfassunggebende Nationalversammlung’ schwört, erst auseinanderzugehen, wenn sie Frankreich eine Verfassung gegeben habe. Am 20. 6. 1791 flieht Louis XVI. aus Paris, was zu einem entscheidenden Vertrauensverlust zwischen der noch bestehenden Monarchie und dem Volk führt. Am 20. Juni 1792 findet der erste, aber folgenlose, Sturm auf die Tuilerien statt. Es stellt sich also die Frage, welches Datum Turgenev meinte? Dass sich sein Hinweis auf dieses letztgenannte Datum beziehen soll, scheint am wenigsten plausibel, es sei denn, man unterstellt dem Autor heftige Ironie, um nicht zu sagen Bosheit. Die Demonstration ist nämlich nicht nur erfolglos, sie wird auch durch einen billigen Trick beendet: Der bedrohte Königs zeigt sich mit Jakobinermütze, um seine ‚Nähe’ zu den Aufständischen zu demonstrieren, die daraufhin abziehen. Da wäre der 20. 6. 1789 weit sinnvoller, weil dort noch ein weitestgehend demokratisches Ereignis stattfand.

Zviguilskys Deutung geht m. E. von einer symbolisierenden Überhöhung dieser ‚absichtlichen’ Datumsänderung aus. Doch an keiner Stelle sonst lässt sich in den Briefen aus Sinzig ein solches ‚Symbolisieren’ beobachten – es stünde nach meiner Auffassung auch gegen die sonstige ‚Alltäglichkeit’ der Briefe, die – bei aller Freude – auch in diesen beiden Schreiben nicht verlassen wird. Bei der fiktiven Biographie des Neugeborenen spart Turgenev expressis verbis, jede ‚Überhöhung’ aus – wie oben gezeigt! Ihm genügt das völlig unpolitische, elementare ‚célèbre’. Überdies machte Turgenev 1848, wenngleich nur als Zuschauer, eigene ‚revolutionäre’ Erfahrungen(100) – mit Schrecken – wie Troyat summiert: „Aus dieser kurzen Erfahrung hat er [T.] nur eine Lehre gezogen: Abscheu vor Unruhen, vor Lügen, vor unnützen Opfern, vor systematischen Massakern. Ein Mann des Denkens und des Friedens, träumte er von einer Verbesserung der Bedingungen für die Bevölkerung, aber außerhalb jeder Gewalt.“(101) Keine gute Basis also für eine absichtliche symbolische Verwendung revolutionärer Ereignisse. Darüber hinaus folgt im Brief unmittelbar auf die Datums-Anspielung (wenn man sie denn akzeptiert) sein ‘je radote’ – ‚ich rede ein wenig Unsinn’, damit aber wird das Vorhergehende unweigerlich ironisiert, ins Lächerliche gezogen. Das alles passt doch so nicht zusammen. Die Erwähnung des 20. Juni als Hinweis auf die republikanische Gesinnung der Viardots, heißt es weiter, werde zudem bekräftigt durch eine Zeile aus der ‚Marseillaise’ gegen Ende des Briefes.(102) Das ist noch weniger wahrscheinlich, gilt doch die Marseillaise selbst vielen Franzosen als allzu kriegerisch. Wie kann man dann aber den Datumsfehler, Französische Revolution und Marseillaise in einer Turgenev gemäßen Deutung zusammenführen? Halten wir uns an ihn selber: „Je radote“ („Ich rede ein wenig Unsinn“) – die Verbindung von der Geburt eines Kindes mit der Revolution ist für ihn demnach nicht so bedeutungsschwer gemeint, wie es auf den ersten Blick aussieht. Damit legt er seinerseits über das Ganze statt symbolischer Schwere einen Hauch von (Selbst-) Ironie. Aber als „Meister der Kürze und Einfachheit“ tut er einen guten Griff: Er wählt zwei französische Stereotype und ist auch damit weit weg von symbolisierendem Sprechen. Ein kleiner Franzose wurde geboren – die Französische Revolution ist nicht nur für Frankreich sondern das damalige westliche Europa eines der wichtigsten historischen Ereignisse der Neuzeit und (abgesehen (!) von den ‚revolutionären’ Ereignissen in ihrem Umfeld, die zudem schon weit zurückliegen) geradezu ein Synonym für Demokratisierung. Entsprechend allgemein fällt auch Turgenevs Zusatz aus – „date révolutionnaire“ („revolutionäres Datum“). Aus der Marseillaise zitiert er dazu den kleinen friedlichen Passus „Allons, enfants de la patrie!“ („Lasst uns aufbrechen, Kinder des Vaterlandes!“). Kürzer und einfacher kann man den Kleinen als Mitglied der ‚Grande Nation’ kaum charakterisieren. Das Datum ist dabei im Grunde irrelevant!

Indessen ist auch die Bezeichnung des Kleinen als „Sans-culotte“ nicht ganz frei von einer gewissen Ironie, denn mit diesem Begriff waren die abhängigen Arbeiter, Handwerker, Kleinbürger gemeint – weit entfernt also vom großbürgerlichen Lebensstil der Familie Viardot.(103) Turgenev betont noch einmal sein ‚radoter’ – am Ende des Briefes bemerkt er: „Ich werde Ihnen morgen oder übermorgen in einer vernünftigeren Weise schreiben.“(104) Der Tenor bleibt also erhalten!

Wie aber dann den Fehler erklären? Ganz einfach: durch Irrtum. Dass Turgenev dann einem Schreibfehler (20. Juni) nur seinen (recht allgemeinen) Hinweis (‚revolutionäres Datum’) auf die Geschichte der Französischen Revolution anfügt, spricht mehr für eine spontane Reaktion, die unbestritten auf die politische Einstellung der Viardots passt, als für eine symbolisierende Absicht (noch dazu auf der Basis eines gewollten Fehlers). Der von mir ‚bevorzugte’ Irrtum ist überdies keine Singularität, sondern hat in den Sinziger Briefen Parallelen. Der zweite Brief (Nr. 610) ist ebenso falsch datiert wie der an M. N. Tolstoj (Nr. 613). Am 16. 7. 1857 schreibt Turgenev zunächst an I. I. Panaev (Nr. 612) und datiert mit 4/16. Juli. Den am selben Tag geschriebenen Brief an die Tolstaja datiert er falsch: auf den 4/16 Juni! Ein letztes ‚Datums-Argument’: Im Brief vom 29. Juli (Nr. 620) bemerkt er ganz richtig: „ ... ich sehe Sie schon aufgestanden und im Hof spazieren gehend (es ist heute der 9. Tag).“(105) - damit ist er in der Datumsfrage korrekt.(106)

Mit einem feinen ‚Kunstgriff’, der in der deutschen Übersetzung leider nicht erhalten werden kann, schließt Turgenev diesen Brief. Nach den wenigen Worten an den Vater (Nr. 616) erzeugt der lange Brief an die Mutter ein Ungleichgewicht. Turgenev mag das gespürt haben. So verbindet er den zweiten Brief mit dem ersten durch eine elegante, kleine sprachliche Veränderung (10.): zu dem ersten „Je commence par vous embrasser“ (Nr. 616), das er im Beginn des zweiten Briefes auf die ganze Familie überträgt („Je vous félicite tous et vous embrasse tous!“), schlägt er den Bogen ebenso zurück wie zum Beginn des zweiten Briefes: „Et je vous embrasse tous, à commencer par Mr Paul …“(107) Die sichtbare, fast übersprudelnde Freude findet in diesem Brief in einer Weise Ausdruck, die auf den ersten Blick sprunghaft wirkt, die aber zugleich auch den gestaltenden Künstler in ihm herausfordert hat.

Briefe, die einen Adressaten haben, enthalten natürlich adressatenbezogene Anteile. Sieht man von den beiden zuvor behandelten Schreiben ab, so hält sich dieser Anteil in den Sinziger Briefen in den meisten Fällen sehr in Grenzen.

Der Brief vom 29. 7 1857 (Nr. 620) an Pauline Viardot schließt an die Geburt des Sohnes an und drückt die Hoffnung Turgenevs aus, dass er doch noch einen Brief nach Sinzig erhalte. Wie etliche andere enthält auch dieses Schreiben einen Hinweis auf ein baldiges Wiedersehen. Letzteres ebenfalls in Nr. 619 (an E. Dentu), in Nr. 609 (an A. A. Trubeckoj), in Nr. 611 (an P. Turgenev), in Nr. 613 (an M. N. Tolstoj), natürlich mit unterschiedlichen Zeitangaben.

Turgenev erkundigt sich gelegentlich nach der Familie seines/r Adressaten/in und nach dessen/deren eigenem Befinden(Nr. 609, Nr. 610; Nr. 613 ). Ausführlich geschieht dies im Schreiben an M. N. Tolstoj (Nr. 613): „Erzählen Sie mir zunächst – ob Sie gesund sind – und dann alles, was Sie wollen. Teilen Sie mir Neuigkeiten über den Grafen [Ehemann] mit (vor dem ich mich verbeuge und dem ich freundschaftlich die Hand drücke) – von Olga Petrovna [Freundin], von Ihren Kindern und insbesondere von dem bezaubernden Nikolaj Nikolaič [Schwager], der, hoffe ich, aus dem Kaukasus zurückgekehrt ist und bei Ihnen wohnt. Sagen Sie ihm, dass ich ihn von Herzen liebe und dass seine ‚Erzählungen’ wunderschön sind.“(108) Ausführlich spricht er aber in diesem Brief auch über seine Pläne für die nähere Zukunft: Aufenthalt bei der Familie Viardot – drei oder vier Wochen – , anschließend Rückkehr nach Russland. „Aber im Winter fahre ich nach Petersburg, wo ich den lahmenden ‚Sovremennik’ in die Hand nehmen muss. Nur weiß ich nicht, wirklich, wieweit es mir gelingt, ihm zu helfen. Ich bin entkräftet – und wenn noch nicht entkräftet – dann sehr fest ‚verkorkt’, was auf ein und dasselbe hinausläuft.“(109) Und er versichert sie seiner Freundschaft.

Neben dem Brief an Maria N. Tolstoj ist derjenige an Pavel V. Annenkov der längste, hat aber viel weniger unmittelbar adressatenbezogene Anteile. Allerdings fügt Turgenev seiner Klage über zunehmende Gleichgültigkeit seinerseits (infolge nachlassender Kräfte) hinzu: „Schreiben Sie mir, was Sie tun und wie Sie in Simbirsk leben ... ich fühle, dass ich Ihnen verbunden bin und mit Vergnügen ihre abgehackte Krakelei sähe. Wenn Sie mir sofort nach Empfang dieses Briefes schrieben, dann erreichte mich Ihr Brief noch hier [in S.].“(110) Man spürt deutlich eine sehr persönliche Hinwendung Turgenevs zu Annenkov und das Bedürfnis nach einer Reaktion.

Der kurze Brief an seine Tochter handelt größtenteils von Ortslage [Sinzig] und Kur – erst am Ende geht Turgenev kurz auf die Schulsituation Paulines ein. Er ist sich sicher, dass sie fleißig arbeitet. Mit freundlicher Ironie fordert er: „Denke [daran], dass ich mindestens zweite Plätze erwarte.“(111) Außerdem solle sie, wenn sie ihm schreibe, es nicht an Nachrichten über Mme. Viardots Gesundheit mangeln lassen – und Porto müsse sie nicht bezahlen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es dem Verfasser schwerfällt, seiner Tochter gegenüber in derselben Deutlichkeit Gefühle zu zeigen wie zuvor gegenüber Annenkov.(112) In der Literatur zu Turgenev wird indes mehrfach erwähnt, dass er ein liebevoller Vater gewesen sei.

Seine Zeilen vom 29. 7. 1857 (Nr. 618, an V. P. Botkin) beginnt Turgenev mit einer relativ weitläufigen Entschuldigung dafür, dass er einen Brief Botkins an Tolstoj (adressiert nach Sinzig!) geöffnet habe. Er geht aber davon aus, dass er entschuldigt sei: die Fäden der Ereignisse laufen unerwartet in Sinzig zusammen. Družin(113) hatte Turgenev für drei Tage besucht. Von ihm, der am Vortage wieder abgereist ist, hatte er erfahren, dass auch Botkin an Meeres-Bäder dachte. Seine eigene Lage in Sinzig war unerfreulich, der Entschluss abzureisen gefasst und die Idee, auch Tolstoj zu einer solchen Kur mitzunehmen, stand im Raume – da blieb nur die Möglichkeit, Botkins Brief zu öffnen, um über dessen Reisepläne Klarheit zu erhalten, damit die eigenen Pläne auf einen gemeinsamen Aufenthalt am Meer abgestimmt werden konnten. Man sieht als heutiger Leser sehr klar, wie anders damals die Kommunikationssituation der Menschen war. Raum und Zeit hatten einerseits einen viel stärkeren Einfluss, die Zeit zugleich aber auch einen weniger bedeutsamen Anteil am täglichen Leben.

Auch bei E. E. Lambert entschuldigt sich Turgenev, hier für ein allzu langes Schweigen – nicht zu ersten Mal – und mit dem launischen Hinweis, dass ‚das Schwert ein geständiges Haupt nicht abschlage´(114). „Es hätte sich schon lange gehört, Ihnen zu schreiben – aber teils reiste ich von Ort zu Ort, teils befand ich mich in einem sehr schlechten Gemütszustand – da war ich nicht zu einem Brief aufgelegt, vor allem an eine so hochgestellten Persönlichkeit, gegenüber der ich keinen schlechten Eindruck von mir zu vermitteln wünschte. Schließlich jedoch begann mein Gewissen mich allzu sehr zu beißen – und nun schreibe ich Ihnen …“(115) – allerdings schafft er es erst am 7. 8., diesen in Sinzig begonnenen Brief in Boulogne zu beenden und abzusenden.

Erwähnt sei noch sein Brief vom 17. Juli an Herzen (Nr. 614). Zunächst erfährt man, dass Turgenev seine Sinziger Bekanntschaft mit dem Geschwisterpaar Saburov an Herzen weitervermittelt hat, der ihm dafür dankbar sein müsse, „weil diese beiden – Bruder wie Schwester – zu den höchst liebenswürdigen Russen gehören, die je zu treffen mir glückte.“(116) Sie werden in seiner Erzählung Asja ihr literarisches Denkmal erhalten. Darüber hinaus reagiert Turgenev auf die erste Nummer der von Herzen heraus gegeben Zeitschrift Kolokol („Die Glocke“): Sie ist politisch brisant, „erreicht hoheitliche Regionen“(117), über den hervorgerufenen Eindruck müsse er [H.] indes selbst nachdenken. Ein Almanach, den Herzen zusammen mit Ogarev herausgibt, ist so stark gefragt, dass Turgenev von Klagen über die Unerreichbarkeit dieser Zeitschrift berichtet, entsprechend fordert er Herzen auf: „Drucke den 1, 2 Teil des „Polarstern“ in einer zweiten Ausgabe.“(118)

Die restlichen ‚Anteile’ von Adressatenbezug verteilen sich auf die Anrede- und Grußformeln. Diese sind, wenn ich mit deutschen Briefen aus etwa derselben Zeit vergleiche, in meinen Augen sehr schlicht und direkt: „(mon/ma) cher/chère (bonne) NN/ami“(119) sind die alleinigen Anrede in den französischen Briefen; dem entsprechen die russischen Anreden: „любезный/~ая NN/друг/графина“ – auch in der Steigerungsform „любезнейший“ und „милый (милейший) NN/друг.(120)

Die Schlussformeln variieren etwas stärker: adieu, saluer, baiser la main, (ré)embrasser, etwas ‚aufwendiger’ auch (le) votre (tout dévoué/vieil ami) – und fast schon aus der Rolle fallend an Dentu (Nr. 619) „Je vous salue avec la plus parfaite considération“(121), Die ein oder andere französische Formel stimmt mit dem Russischen unmittelbar überein, wie z. B. целовать руку – baiser la main (die Hand küssen) oder вас/твой – (le) votre/ton (Ihr/Dein); обнимать – embrasser (umarmen). Andere Formeln sind: прощай/~те (lebe/lebt wohl), до свидаия (auf Wiedersehen), жму ... (крепко) руки (ich drücke ... (fest) die Hände), будь/будте здаровы (bleibe/bleibt gesund) oder остаюсь преданный ... (ich bleibe ergeben).

Auch hier spricht die Schlichtheit für die ‚Alltäglichkeit’ dieser Briefe – und eine recht unkomplizierte Art Turgenevs, mit seinen Adressaten in ein Gespräch zu treten und sich daraus zu verabschieden.

Kehren wir abschließend zu der eingangs gestellten Frage zurück, was denn die Briefe über diese Zeit (in Sinzig) und über Turgenevs Wahrnehmung von der Umgebung und dem Ort aussagen, in dem er „begann, die Erzählung Asja zu schreiben, deren Handlung in dem Städtchen „S“ abläuft, d. h. in eben diesem Sinzig, das sehr detailliert und genau beschrieben ist.“(122)

Im Vergleich zu den Hinweisen aus der Asja hat sich aus den Briefen bisher nur ergeben, dass Sinzig „ein sehr kleines Loch ist“ (Nr. 609), dass es dort lediglich 80 Kurgäste gibt und man kaum je mehr als zehn auf einmal sieht (ebd.), dass es hier nur wenige Menschen gibt (Nr. 609, 611, 613, 614), dass der Ort 3 Werst (ca. 3,2 km) vom Rhein entfernt liegt (Nr. 613), dass man den Ort auf keiner Karte findet (Nr. 609, 610), ja – dass es ein mieses kleines Nest ist (Nr. 622)(123). Man liest und sieht in den Skizzen, wo dieser Ort liegt. Und schließlich erfährt man, dass Turgenev im ‚Badehaus’ unmittelbar an der Quelle wohnt (Nr. 613)(124).

Wenn aber in der Asja dieser Ort ‚S’ „sehr detailliert und genau beschrieben ist“, dann erwartet man nicht zu Unrecht, dass Turgenev zumindest einiges über diesen Ort in seinen Briefen festgehalten und seinen Adressaten vermittelt hat. Man erwartet einiges über seine Aktivitäten und sicher auch Hinweise auf seine Erzählung Asja.

Um mit letzterem zu beginnen, so gibt es nur einen direkten Hinweis im Brief vom 16. 7. an I. I. Panaev: „Ich bringe eine Erzählung mit, die ich hier begonnen habe und, Gott gebe es, hier beende.“(125) Doch erst aus Turgenevs Notiz am Ende des Autographs der Asja ergibt sich die aufhellende Verbindung zu diesem Hinweis: „Asja. Erzählung. Begonnen in Sinzig am Ufer des Rheins 30. Juni/12. Juli am Sonntag – beendet in Rom 15./27. November desselben Jahres am Freitag ...“(126) Einen weiteren (wichtigen) ‚Baustein’ zur Asja entdeckt man im Brief vom 9. 7. 1857: „Übrigens, wie die Russen allerorten vordringen, so findet man auch hier Russen, ... ein gewisser Nikitin, Offizier, er hat seine Karriere aufgegeben, um Künstler zu werden (es scheint, dass er Talent hat). ... Zu ihm waren als Gäste zwei andere Russen gekommen und sind heute abgereist, ebenfalls allerliebst, ein gewisser Saburov und seine Schwester.“(127) Diese drei, die Turgenev dem Freund Annenkov auf diese Weise ‚vorstellt’, sind die ‚Prototypen’ für das Geschwisterpaar Asja und Gagin in der Erzählung Asja. Nikitins Künstlerambitionen werden auf (Saburov)/Gagin übertragen. Und von Sinzig werden die Geschwister nach Linz versetzt. Diese Zusammenhänge lassen sich aber nicht unmittelbar aus den Briefen erschließen, sondern werden erst ex post in der interpretierenden Verbindung mit der Erzählung nachvollziehbar.(128)

Aber Sinzig und Umgebung? Von der Umgebung berichtet Turgenev: „Wir sind hier in einem schönen Milieu einer weiten und fruchtbaren Ebene, an allen Seiten umgeben von Bergen. Es gibt nicht genug Schatten – voilà das Übel.“(129) Zum wiederholten Male ähnlich – an die Tochter: „Übrigens sind wir hier in einer schönen Gegend – inmitten einer fruchtbaren Ebene, umgeben von hohen Bergen, leider ist das Wetter nicht allzu günstig.“(130) M. N. Tolstoj erhält eine weitere Variation mit einigen neuen Details: „Vor den Fenstern ein weites Tal, bedeckt von Getreiden jeglicher Art und von Obstbäumen – aber am Horizont die gezähnte Linie der Berge, die am rechten Rheinufer liegen. Ein schöner Ort – aber wenig Schatten.“(131) Einen Nachhall aus dieser Beschreibung findet man im IV. Kapitel der Asja: Beim Blick von der Ruine auf den Rhein heißt es dort, dass der große Strom „hinter der dunklen Kante der steil zerklüfteten Bergkämme“ leuchtete(132), wobei der Erzähler – nun sich auf der Linzer Rheinseite befindend – diese Kante gewissermaßen von der Rückseite im Gegenlicht sieht. In die Umgebung Sinzigs macht Turgenev alleine und in Begleitung verschiedentlich Ausflüge. Zusammen mit Nikitin und den Saburovs: „Gestern haben wir gemeinsam einen großen Spaziergang im Ahrtal gemacht; das Tal erwies sich als sehr malerisch.“(133) Alleine (was aber nicht eindeutig verifiziert werden kann) hat er „währenddessen ... schon zwei oder drei Ausflüge gemacht, und das Wetter wird nicht immer schlecht sein.“(134) Eine größere Exkursion, die ihn wohl auch etwas Kraft gekostet hat, erwähnt er in einem Brief an A. I. Herzen: „Ich laufe maßlos viel – gestern stieg ich auf einen Berg (1400 Fuß über dem Meeresspiegel), acht Werst von hier, kletterte direkt auf seinen Gipfel, betrachtete Basaltkuppen und kehrte unverzüglich nach Hause zurück.“(135) Da das Fußmaß in regional erheblich variiert (zwischen ca. 22 bis über 45 Zentimeter) bleibt zwar ein gewisser Unsicherheitsfaktor. Nimmt man aber die genannte Entfernung (ca. 8,5 km) und schlägt einen Kreis um Sinzig, dann kann Turgenev eigentlich nur den ‚Neuenahrer Berg’ bestiegen haben.

Aber Sinzig? Sinzig – und das ist das überraschendste Ergebnis – kommt in den Briefen nicht vor, keine Beschreibung irgend eines Gebäudes, von Straßenzügen, Menschen, von anderen Besonderheiten – nichts!

Linz, in dem sich ein großer Teil der Erzählung Asja abspielt, taucht nicht einmal dem Namen nach auf.

Um so verblüffender demzufolge, dass in der Erzählung Sinzig anscheinend zu weit mehr Anteilen wahrgenommen wird, zumindest aus der Sicht der meisten Interpreten – was einmal genauer zu überprüfen wäre.

Auch wenn er die Erzählung noch ‚im Angesicht Sinzigs’ begonnen hat, so hat Turgenev all das, was er in sie aufnimmt, demnach nicht im ‚Äußeren’ festgehalten, sondern im Inneren bewahrt. Der zeitliche Abstand zwischen ‚wahrnehmen’ und ‚verarbeiten’ ist dabei nur von sehr geringer Bedeutung. Georg Brandes erfährt von einem Gesprächspartner in Russland Turgenevs eigene Erklärung für diese Art, Wahrnehmung und literarische Verarbeitung zu handhaben: „Er [T.] sagte zu Michailoff, Professor für Physiologie in Petersburg (von dem ich das habe): Ich sehe einen Mann, der mich in dem ein oder anderen Zug fasziniert, es kann sogar ein wenig bedeutenden Zug sein. Ich vergesse ihn. Und dann, lange danach, erhebt sich dieser Mensch plötzlich aus dem Grab des Vergessens. Um den Zug, auf den ich meine Aufmerksamkeit gerichtet hatte, gruppieren sich andere, und es nützt wenig, wenn ich ihn jetzt vergessen will; ich kann es nicht; er ergreift von mir Besitz; ich denke mit ihm, lebe in ihm; ich kann mich nur damit beruhigen, eine Existenz für ihn zu finden.“(136) Und in dieser „künstlerischen Verarbeitung der Wirklichkeit zeichnete er [T.] sich durch eine außerordentliche Scharfsichtigkeit und Feinfühligkeit aus.“(137)

Auch für die Asja hatte Turgenev ein solches Bild, das zwar vom Rhein, nicht aber aus Sinzig stammte(138), Um dieses Bild haben sich in diesem Fall offensichtlich charakteristische Merkmale aus Sinzig, Linz und der hiesigen Umgebung gruppiert, ohne dass davon – Nikitin und die Saburovs ausgenommen(139) – etwas in den Briefen zu finden ist.

 

Alle Übersetzungen in diesem Artikel (aus dem Dänischen, Französischen und Russischen) stammen vom Verfasser. In den Übersetzungen wird die deutsche Zeichensetzung zu Grunde gelegt.

Die mehrfach abweichenden Schreibweisen der russischen Namen ergeben sich aus den Übertragungen in verschiedene Sprachen: Französisch/Englisch/ältere deutsche Art. Im Artikel wird die heutige wissenschaftliche Transliteration verwendet; die je anderen Schreibungen werden nur in Zitaten (notwendigerweise) beibehalten.

Copyright: Hannes Rötter

 

Literaturverzeichnis

 

И. С. Тургенев. Полное собрание сочинений и писем в тридцати томах. Издание второе, исправленное и дополненное, М., Издательство „Наука“, 1980 ff. Zitiert als: Сочинения ...

Письма в восемнадцати томах.Том третий (1855–1858). Издание второе, исправленное и дополнен-ное, М., Издательство „Наука“, 1987. Zitiert als:  Письма III.

Alle Brief-Zitate sind, sofern nicht anders vermerkt, dieser Quelle entnommen.

Афанасьев, В. В., Боголепов, П. К.: Тропа к Тургеневу. Документально-художественная книга в жизни и творчестве Тургенева, М., Детская литература, 1983.

Brandes, Georg: Indtryck fra Rusland, in : Samlede Skrifter, København 1900, Bd. X, S. 301 ff. (Über Turgenev: S. 496–511).

Deres, Karl: Iwan Turgenjew – ein früher Sinziger Kurgast, Kreis Ahrweiler (Hrg.), Jahrbuch 1990, S. 76–78.

ders.: Beweisstück kam aus Moskau, in:  Rhein-Ahr Rundschau vom 21. 2. 1988.

Dornacher, Klaus: Turgenev in Sinzig, Magdeburg 1982, übersetzt ins Russische :Тургенев в Зинциге, in: И. С. Тургенев. Вопросы биографии и творчества. AН СССР, Институт русской литературы (Пушкинский дом) (Издат., Ред. М. П. Алексеев):Л., 1982. c 95–98.

Granjard, Henri und Zviguilsky, Alexandre: Lettres inédites de Tourgénev à Pauline Viardot et sa Famille, Lausanne 1972.

Keuser, Anton: Die Bürgermeister von Sinzig in preußischer Zeit, in: Kreis Ahrweiler (Hrg.), Jahrbuch 1961, S. 116–120.

Лотман, Лидия М.: История русской литературы в 4 т., АН СССР, Л., Наука, 1980 Том 3, (Глава третья: И. С. Тургенев) c. 120–159.

С. М. Петрова и В. Г. Фридланд: И. С. Тургенев в воспоминаниях современиков. Москва, 1969

Здесь: т II, Н. А. Островская из «Воспоминаний об И. С. Тургеневе»

Troyat, Henri: Tourgueniev, o. O., Flammarion 1985.

Urban, Peter: Genauigkeit und Kürze. Ansichten zur russischen Literatur, Zürich 2006.

Urban, Peter (Hrg.): Gustave Flaubert – Ivan Turgenev, Briefwechsel 1863 – 1880, Berlin 1989.

 

Anmerkungen

(001) Dem Titel eines Artikels darf man nur eine beschränkte Menge an Informationen zumuten. Daher ist an dieser Stelle eine kleine ‚Korrektur’ nötig. Hinsichtlich der Krankheit und der Kur in Sinzig sind in einigen Briefen aus Boulogne sur mer (wohin T. von Sinzig aus geht) ergänzende Aussagen zu finden. Deshalb habe ich diese Briefe in meine Betrachtungen einbezogen (Nr. 621–627).

(002) Bei den Datierungen verwende ich die Daten des Gregorianischen Kalenders (also unsere heutige Datierungsweise). In Russland wurde im 19. Jh. noch der Julianische Kalender verwendet, der um 12 Tage zurückliegt. Man begann aber schon mit der Umstellung der Datierungsweise und vermerkt dann z. B.: 4. Juli, alter Stil/16. Juli neuer Stil. Schreibt Turgenev französisch, verwendet er die westliche Datierung, schreibt er russisch, gibt er meist beide Daten an, was (v. a. im letzten Monatsdrittel) gelegentlich zu Irrtümern führen kann.

(003) И. С. Тургенев. Полное собрание сочинений и писем. Письма. Том третий (1855–1858), im Weiteren zitiert als: Письма III(für die Briefe). Siehe: Anmerkung 3 zu Brief Nr. 611, S. 548; Anmerkung 1 zu Nr. 612, S. 548; Anmerkung 4 zu Nr. 615, S. 550. Ferner: Das P. S. zu Nr. 614, dem ersten (!) Sinziger Brief an Herzen in der Moskauer Ausgabe: „Повторяю на всякий случай мой адресс: ...“ („Ich wiederhole für alle Fälle meine Adresse: ...“), S. 237.

(004) Ausnehmen möchte ich von dieser Wertung (Nr. 616, an Louis Viardot, und) Nr. 617 an Pauline Viardot anlässlich der Geburt des Sohnes Paul. Dazu später eingehend, S. 14 ff.

(005) Dostoevskij’s Roman Преступление и наказание ist in der Regel mit diesem Titel bekannt. Die neuere und bessere Version der Übersetzung – Verbrechen und Strafe – ist bislang nicht zur Allgemeinheit durchgedrungen.

(006) Лидия М. Лотман, История русской литературы АН СССР, Л., Наука, 1980, Том 3: „Иван Сергеевич Тургенев (1818–1883) принадлежит к числу писателей, внесших наиболее значительный вклад в развитие русской литературы второй половины XIX в.“, S. 120.

(007) Urban, Genauigkeit und Kürze,S. 141.

(008) Urban (Hrg.), Gustave Flaubert – Ivan Turgenev, S. 236. Vgl. auch: Troyat, S. 90 f.

(009) Письма III, Brief vom 16. 8. 1857 (Nr. 626, an Botkin): „... действие электричества на больное место ...“  („... Wirkung von Elektrizität auf die kranke Stelle ...“), S. 249.

(010) Письма III, Brief vom 16. 7. 1857 (Nr. 612): „Странно было мне приниматься за перо после годового бездействия ...“, S. 234. Mit gleichem Datum ähnlich an M. N. Tolstoj (Nr. 613): „Надо Вам сказать, что я в течение года пера в руки не брал ...“ („Ich muss Ihnen sagen, dass ich Laufe eines Jahres die Feder nicht in die Hand nahm ...“), S. 235. An Annenkov am 9. 7. 1857 (Nr. 610): „... я могу ... работать (чего я уже не делал более года).“ („... ich kann ... arbeiten (was ich schon mehr als ein Jahr nicht tat).“), S. 230.

(011) Urban (Hrg.), Gustave Flaubert – Ivan Turgenev, S. 19 (Brief vom 24. 3. 1863).

(012) Brandes: „... hans Grundfølelse ... er en stærk og stille Følelse ..., alltid dæmpet i sit Udbrud. Sjældent har en stor og frugtbar Forfatter været saa lidet larmende som han. Der er i denne ædle og simple Holdning noget Aristokratisk.”, S. 496.

(013) Urban, Genauigkeit und Kürze, S. 144.

(014) Urban, Genauigkeit und Kürze, S. 159 f.

(015) Urban, Genauigkeit und Kürze, S. 181.

(016) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857: „Вы, вероятно, улыбнетесь, но скажу Вам очень сурьезно: возвращение моей болезни меня убило: я мертвый человек – я это чувствую, – от меня несет трупом. Пока эта змея будет грызть меня – ничего в жизни не может меня занимать и я не гожусь ни на что.“, S. 231.

(017) Письма III, Brief vom 22. 7. 1857 (Nr. 615): „Здоровье мое всё неудовлетворительно; пузырь болит почти постоянно ...“, S. 238.

(018) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 610): „Впрочем, довольно об этом.“, S. 231. Brief vom 8. 8. 1857 (Nr. 623): „Впрочем, что об этом толковать!“ („Übrigens, wozu darüber reden!“), S. 246. Brief vom 16. 8. 1857 (Nr. 626): „Довольно об этом!“ („Genug davon!“), S. 249. Ausführlicher am 25. 7. 1857 (Nr. 622): „Впрочем, я Вам не стану говорить о моих недугах – это очень невеселый предмет.“ („Übrigens, ich werde Ihnen nicht von meinen Leiden sprechen – das ist ein sehr unerfreuliches Thema.“), S. 244.

(019) Письма III, Brief vom 18. 8. 1857 (Nr.627, an V. P. Botkin): „Особенно сокрушает меня то, что прежде болезнь моя исчезала или заметно ослабевала, как только я выезжал из Парижа; теперь же перемена места никакого облегчения не производит – и я мучусь в Булони, как мучился в Зинциге.“, S. 250.

(020) Письма III, Brief vom 8. 8 .1857 (Nr. 623, an V. P. Botkin): „К сожалению, сам я стал крайне плох; болезнь меня состарила двадцатью годами – и когда я тебе растолкую, в чем она состоит, ты не удивишься моим словам. От работы я, кажется, навсегда отказался ...“, S. 246.

(021) Письма III, Brief vom 16. 8 .1857 (Nr. 626, an V. P. Botkin): „... то уверяю тебя, je ne suis plus bon ni à voir, ni à entendre; je ne suis plus que de la merde, человек, который с утра до вечера зубами скрыпит от боли и досады, а по вечерам головою в стену колотит – не человек и не достоин человеческого общества; – от меня несет трупом, и я сам себе опротивел до последней степени.“, S. 249.

(022) Письма III, Brief vom 6. 7. 1857 (Nr. 609, an Anna A. Trubeckoj): „Sinzig ne se trouvant sur aucune carte. C’est un fort petit trou, ...“, S. 229.

(023) Письма III, Brief vom 6. 7. 1857 (Nr. 609): „C’est mon docteur de Dresde [sic !], Hedenus, qui m’a envoyé ici – je suis allé le consulter, après avoir reconduit Nekrassoff jusqu’à Berlin.“, S. 229. Ähnlich im Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 610, an Annenkov): „Мне предлагал доктор Геденус, с которым я советовался в Дрездене, – либо Эмс (... ), либо Зинциг.“ („Mir hat Doktor Hedenus vorgeschlagen, mit dem ich mich in Dresden beraten habe, – entweder Ems (...) oder Sinzig.“), S. 230.

Vgl. auch: Karl Deres, Iwan Turgenjew, S. 76. Ähnlich: Dornacher, S. 96.

(024) Письма III: „Между 15 и 20 июня cт. cт. Некрасов и А. Я. Панаева в сопровождении Тургенева выехали из Парижа в Берлин.“, S. 546.

(025) Письма III, Brief vom 6. 7. 1857 (Nr. 609, an Anna A. Trubeckoj): [Sinzig]„où il y a une source, pareille à celle d’Ems.“, S. 229. Sehr ähnlich im Brief vom 16. Juli 1857 (Nr. 613), an M. N. Tolstoj: „Здесь находятся воды, подобные Эмсским ...“ („Hier finden sich Wasser, ähnlich den Emsern ...“), S. 235.

(026) Keuser, S. 118.

(027) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 611): „... je bois beaucoup d’eau, je prends des bains tous les jours – je remplis, en un mot, toutes les prescriptions du docteur pour tâcher de me guérir et pour pouvoir quitter cet endroit dans cinq semaines ...“, S. 233.

(028) Письма III, Brief vom 16. 7. 1857 (Nr. 612): „... я нахожусь в городе Зинциге, ..., и пью воды. ... сверх того я беру ванны. Я останусь здесь до 20-го августа ...“, S. 233. Schließlich noch im Brief vom 16. 7. 1857 (Nr. 613, an M. N. Tolstoj): „Я уже здесь две недели и останусь еще целый месяц;“ („Ich bin schon zwei Wochen hier und bleibe noch einen ganzen Monat;“), S. 235.

(029) Hier muss man demzufolge Deres korrigieren, Iwan Turgenjew, S. 77.

(030) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 610): „Не знаю, поможет ли мне здешняя вода – но, как нарочно, мне стало здесь гораздо хуже – меня уверяют, что это постоянное действие воды вначале, но я разучился верить докторам.“, S. 231.

(031) Письма III, Brief vom 17. 7. 1857 (Nr. 614): „С своей стороны скажу тебе, что, кажется, мне здешние воды и ванны помогают; сперва боли мои усилились было, а теперь с каждым днем становится легче – что-то дальше будет!“, S. 236.

Ähnlich: Deres, Iwan Turgenjew, S. 77: „Nach anfänglichen Schwierigkeiten bekam ihm das Wasser immer besser.“

(032) Письма III, Brief vom 22. 7. 1857 (Nr. 615): „… мне кажется, что зинцигские воды мне нисколько не помогают. Над другими они чудеса производят; сосед мой англичанин приехал сюда без ног, весь недвижимый – а теперь по горам лазит. Кому какое счастье.“, S. 238. Ähnlich: Deres, Iwan Turgenjew, S. 77.

(033) Письма III, Brief vom 25. 7. 1857 (Nr. 622, erster Teil): „... я пишу Вам из очень плохенького городишка на левом берегу Рейна, ..., куда я приехал, три недели тому назад, пить воды и лечиться – и вообразите себе, оказывается, что воды здешние мне вредят, и я дурно себя чувствую – и должен отсюда ехать ...“, S. 244.

(034) Письма III, Brief vom 29. 7. 1857 (Nr. 618): „Надобно тебе сказать, что здешние воды вместо пользы сделали мне положительный вред, и я сегодня собираюсь выехать отсюда с чем, чтобы также поехать на берег моря;“, S. 240 f.

Wiederum in ähnlicher Formulierung teilt Turgenev den gleichen Sachverhalt am selben Tage auch Pauline Viardot mit und bestätigt selbst, was schon oben festgestellt wurde: dass er seine Sinziger Kur vor der Zeit abbricht. („... et ne pas attendre l’expiration des 6 semaines.“(„... und nicht das Ende der 6 Wochen abzuwarten.“)), Brief vom 29. 7. 1857 (Nr. 620), S. 242.

(035) Vgl. auch: Deres, Iwan Turgenjew, S. 76.

(036) Письма III, Brief vom 6. 7. 1857 (Nr. 609): „J’ai préféré y aller pour éviter la cohue – et en effet il n’y a pas l’ombre de cohue ici – nous ne sommes que 80 Kurgäste – et jamais on n’en voit plus de 10 ensemble.“, S. 229.

(037) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 610): „Я предпочел З[инциг] – здесь почти никого нет ...“, S. 230.

(038) Письма III (wie Anm. 3), Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 611, an Pauline T.): „Il y a fort peu de monde ici ...“ („Es gibt hier sehr wenige Leute ...“), S. 233. Brief vom 16. Juli 1857 (Nr. 613, an M. N. Tolstoj): „Зинциг – небольшой городок ... Народу здесь чрезвычайно мало ...“ („Sinzig – ein kleines Städtchen ... hier sind äußerst wenige Leute ...“), S. 235. – Zitiert auch bei Dornacher (wie Anm. 1), hier S. 95.

Ebenso: Brief vom 17. Juli (Nr. 614): „Народу здесь очень мало, и я этому рад;“ („Leute gibt es hier sehr wenige, und ich bin darüber froh;“), S. 236.

(039) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 611, an Pauline T.): „Es gibt sehr wenige Leute hier – demzufolge wenig Ablenkung; – nichts hindert mich zu arbeiten.“, S. 233. Am selben Tage an Annenkov, (Nr. 610): „... я могу предаваться полнейшему уединению и, по возможности, работать ...“ („... ich kann mich einer vollständigen Einsamkeit hingeben und, nach Möglichkeit, arbeiten ...“), S. 230.

Hinweis ähnlich bei Deres, Iwan Turgenjew, S. 76.

(040) Fürstin Anna Andreevna Trubeckoj (1819–1882), Bekannte.

Pavel Vasilevič Annenkov (1812–1887), Freund; bekannter Schriftsteller.

Paulinette Turgenev (1842–1919), Turgenevs (nicht-eheliche) Tochter.

Ivan Ivanovič Panaev (1812–1862), Freund; Belletrist, bekannte journalistische Persönlichkeit.

Maria Nikolaevna Tolstoj (1830–1912), Schwester des Schriftstellers L. Tolstoj, von Turgenev zeitweise ‚angebetet’, sehr zum Verdruss ihres Bruder (vgl. z. B.: Troyat, Tourgueniev, S. 98).

Aleksandr Ivanovič Gercen (Herzen) (1812–1870), Freund; Schriftsteller.

Louis Viardot (1800–1883), Freund; Ehemann von Pauline V., Konzertveranstalter.

Pauline Viardot-García (1821–1910), eine der berühmtesten und vielseitigsten Künstlerinnen des 19. Jhdts.: Sängerin, Pianistin, Komponistin, Pädagogin. T. hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihr, ebenso zu der Familie.

Vasilij Petrovič Botkin (1810–1869), Freund; Literaturkritiker, Journalist, Übersetzer.

Eduard Dentu (1830–1884), Herausgeber und Buchhändler.

Elisabeta Egorovna Lambert (1821–1883), sehr gute Freundin; verheiratet mit General Graf I. K. Lambert.

Dmitrij Jakovlevič Kolbasin (1827–1890), Freund; Herausgeber; Bruder von:

Elisej Jakovlevič Kolbasin (1831–1885), Freund; Schriftsteller, Kritiker, Literaturhistoriker.

(041) Письма III, Brief vom 6. 7. 1857 (Nr. 609, an A. Trubeckoj): „Le plan ci-dessus était indispensable, chère princesse, pour vous faire comprendre où je me trouve depuis trois jours – Sinzig ne se trouvant sur aucune carte.“, S. 229.

(042) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857, ( Nr. 610, an P. V. Annenkov): „Без прилагаемого рисунка, ..., Вы, вероятно, никогда бы не нашли того местечка, где я сижу уже 6-й день ...“ („Ohne die beigefügte Skizze, ..., fänden Sie niemals das Örtchen, wo ich schon seit 6 Tagen sitze ...“), S. 230.

(043) Dornacher, S. 96. – Ebenso: Deres, Iwan Turgenjew, S. 76.

(044) Письма III, Brief vom 6. 7. 1857 (Nr. 609), Anm. 1: „Почти такой же рисунок содержится в письме к П. В. Анненкову от 27 июня ( 9 июля ) 1857 г. ( см. письмо No 610).“, S. 546.

(045) Письма III, Brief vom 16. 7. 1857 an M. N. Tolstoj ( Nr. 613 ): „Я живу здесь в самом „Badehaus“, т. е. в уединенном доме, подле источника.“ („Ich wohne hier unmittelbar im ‚Badehaus’, d. h. in einem alleine stehenden Haus neben der Quelle. “), S. 236. – Ebenfalls: Dornacher, S. 95.

(046) Als Geograph, mag man außerdem feststellen, dass Turgenev die Ahr gegen die Fließrichtung des Rheines in diesen münden lässt, was nicht den natürlichen Gegebenheiten entspricht.

(047) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857: „Пожалуй, Вы и Ремаген не найдете на карте, то посмотрите Андернах и знайте, что это близехонько оттуда.“, S. 230.

(048) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 611):Wenn du wissen willst, wo ich mich befinde, liebe Paulinette, nimm eine Karte von Deutschland, dann finde den Rhein; suche an seinem linken Ufer die Stadt Coblence, – ein wenig weiter wirst du eine andere Stadt sehen, die sich Bonn nennt; zwischen diesen beiden Städten, immer auf der linken Seite des Flusses, gibt es einen Ort, der sich Remagen nennt; also gut, Sinzig ist eine halbe Meile von Remagen [entfernt – Erg. d. d. Verf.], – aber ich zweifle stark, dass deine Karte genügend detailliert ist, um es [S.] dort zu finden., S 232 f.

Diese Beschreibung zitiert auch Deres, Iwan Turgenjew, S. 76 f.

(049) Письма III, Brief vom 16. 7. 1857 (Nr. 613): „Зинциг – небольшой городок в 3 верстах от Рейна, невдалеке от лежащего на левом берегу Рейна городка Ремагена, на полдороге от Кобленца к Кельну.“, S. 235. Zitiert auch bei Dornacher, S. 95

(050) Sinzig gehörte ab 1815 zu Preußen. Rheinpreußen (Rheinprovinz) war von 1815/16 bis zur Auflösung nach dem II. WK eine der Provinzen, die den Staat Preußen bildeten (‚Rheinlande’ zwischen Bingen und Kleve ).

(051) Письма III, Brief vom 16. Juli (Nr. 613): „... я был представлен Теккерею, который мне мало понравился.“ („... ich wurde Thackeray vorgestellt, der mir wenig gefiel.“), S. 236.

(052) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857: „... благодаря двум-трем удачным рекомендательным письмам, сделал множество приятных знакомств, из которых упомяну только Карлейля, Теккерея, Дизраели, Маколея;“, S. 231.

(053) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 610): „... если бы я не уехал так скоро, меня хотели представить Палмерстону, принцу Альберту ...“ („... wenn ich nicht so frühzeitig abgereist wäre, hätte man mich Palmerstone, Prinz Albert ... vorstellen wollen.“), S. 231.

(054) ebd. (Nr. 610): „... но я репшлся отложить всё это до более удобного времени и ехать лечиться.“, S. 231.

(055) ebd. (Nr. 610): „... англичане произвели на меня гораздо более выгодное впечатление, чем я ожидал – я это говорю не потому, что я познакомился с принцами: действительно это великий народ.“, S. 232.

Die Ausstellung in Manchester – „Art Treasures Exhibition“ – war eine der größten ihrer Zeit, mitorganisiert von G. Waagen und Prinz Albert. Es wurden Werke aus privaten Sammlungen Großbritanniens gezeigt. Zu den Besuchern gehörte auch Th. Fontane.

- Carlyle, Thomas (1795–1881), Schriftsteller, Historiker.

- Thackeray, William M. (1811–1863), Schriftsteller, führender Vertreter eines kritischen Realismus (u. a. Vanity Fair, dt. Jahrmarkt der Eitelkeit).

Disraeli, Benjamin (1804–1881), Politiker, zu dieser Zeit Führer der Konservativen im Unterhaus, später Ministerpräsident.

- Macauly, Thomas B. (1800–1859), Politiker und Historiker, Liberaler.

(056) Письма III, Brief vom 17. 7. 1857 (Nr. 614): „Кн. Долгоруков, поступивший на место Орлова, оказывается величайшим обскурантом; жандармы снова вмешиваются в частную жизнь, в семейственные дела и т. д.“, S. 237. Der als reaktionär geltende Fürst D. war seit 1856 Leiter der „III. Abteilung Sr. Majestät höchsteigenen Kanzlei“ (zuständig u. a. für Innere Angelegenheiten, Politische (Geheim)polizei) und Chef der Gendarmen.

(057) Urban, Genauigkeit und Kürze, S. 142.

(058) Bei Urban findet sich auch der Hinweis, dass Turgenev in seiner (kurzen) Beamtenzeit für den damaligen Innenminister, L. A. Perovskij, eine Denkschrift verfasste: Einige Bemerkungen über die russische Wirtschaft und über den russischen Bauern. Schon hier vertritt er Positionen, die zu den herrschenden Auffassungen im Widerspruch stehen. Siehe: Genauigkeit und Kürze, S. 145.

(059) Письма III, Brief vom 16. 7. 1857 (Nr. 613): „Надобно будет подумать на месте о крепостном вопросе, да не только подумать, но и сделать что-нибудь. По крайней мере следует начать это дело.“, S. 235.

(060) Troyat, S. 9 ff., S. 58 („tyran asiatique“ – „asiatische Tyrannin“).

(061) Письма III, Brief vom 29. 7. 1857: „À la page 422 – ce n’est pas de genêts qu’il s’agit, mais bien de guérets (je crois que c’est là le mot) – c’est à dire de champs de blé fauché; “ („Auf S. 422 – handelt es sich nicht um Gin-ster, sondern um Stoppelfelder (ich glaube das ist das Wort) – d. h. um Felder mit abgemähtem Getreide;“),      S. 241.

(062) ebd. (Nr. 619): „J’espère que vous aurez en même temps envoyé ces épreuves à Mr Delaveau – car je ne suis pas fort pour les coquilles et autres fautes d’impression. “, S. 242.

(063) Письма III, Brief vom 16. 7. 1857, S. 234. Turgenev kann damit in etwa auf mögliche Einnahmen schließen.

(064) Письма III, Brief vom 17. 7. 1857 (Nr. 614): „... прежде всего земный тебе поклон за высланные Делаво 250 франков ...“, S. 236.

(065) ebd. (Nr. 614): „... по твоей старинной привычке: кормивши до усов, кормить до бороды, ...“, S. 237.

(066) Turgenev sollte (nach Auffassung Nekrasovs) Herzen von dem Geld bezahlen, das er ihm, N., noch schulde.

(067) Einige Details und weiterführende Literaturhinweise findet man in den Anm. 2, 3 und 5 zum Brief vom 22. 7. 1857 (Nr. 615), Письма III, S. 550.

(068) Письма III, Brief vom 22. 7. 1857 (Nr. 615, an Herzen): „... твое письмо, несмотря на мою овечью натуру, рассердило меня против Некрасова.“ („... dein Brief hat mich trotz meiner Schafsnatur [Gutmütigkeit] – gegen Nekrasov aufgebracht.“), S. 237.

(069) ebd. (Nr. 615): „Всё это действительно неприятно, ... Нет, решительно, без честности нельзя – как без хлеба.“, S. 238.

(070) Avdotja Jakovlena Panaeva war in erster Ehe (1837 bis Ende der 40er Jahre) verheiratet mit I. I. Panaev, dann Ehefrau von N. A. Nekrasov (Zivilehe bis 1863). Nach der Scheidung heiratete sie A. F. Golovačev.

(071) Письма III, Brief vom 6. 7. 1857 (Nr. 609, an A. A. Trubeckoj), Anm. 4: „Не очень лестный портрет Тургенева дала Панаева в своих ‹Воспоминаниях›.“ („Ein wenig schmeichelhaftes Porträt Turgenevs gab Panaeva in ihren ‹Erinnerungen ›“), S. 547.

(072) Am Hofe ständig von Feinden umgeben, soll Mithridates (123 – 63 v. Chr. König von Pontus) stets die Wirkung von Giften erprobt und durch ständige Einnahme von niedrigen Dosen seinen Körper an sie gewöhnt haben.

(073) Man beachte in diesem Zusammenhang die Schreibung des Namens in Großbuchstaben!

(074) Laut Anm. 6 zum Brief vom 6. 7. 1857 (Nr. 609), Письма III, S. 547, ist mit dem Prinzen der Gatte von A. A. Trubeckoj gemeint – offenbar ein Russe von altem Schrot und Korn.

(075) Письма III, Brief vom 6. 7. 1857 (Nr. 609): „Sa belle l’accompagne. C’est une corde au cou, la misère de sa vie que cette belle, qui n’est pas belle du tout et ne l’a jamais été. J’ai découvert pendant ce voyage qu’ils se sont fait tous les deux une douce habitude, l’une de tourmenter, l’autre, de l’être; ma foi, si cela les arrange! Mithridate vivait bien de poisons. Mais j’avoue que j’ai pris cette grosse Mme Panaïeff en horreur. Imaginez-vous qu’elle a des attaques de nerfs avec des entr’actes – motivés par l’arrivée d’un troisième spectateur, d’une marchande de modes, etc. Et Nekrassoff, qui pourtant a bien de l’esprit, n’y voit que du feu. Mme PANAÏEFF éveille en moi le Russe, de façon à contenter le prince lui-même; chaque fois que je la vois, je me sens des velléités de prendre un gros bâton bien dur et de la battre là où elle a le plus de … surface à battre; et elle en a partout, et beaucoup de cette surface-là!“, S. 229.

(076) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 610): „Он очень несчастный человек: он всё еще влюблен в эту грубую и гадкую бабу – и она непременно его сведет сума.“, S. 232.

(077) Письма III, Brief vom 16. 7. 1857 (Nr. 613, an M. N. Tolstoj): „Я Некрасова проводил до Берлина; ... Он уехал с г-жею Панаевой, ... которая мучит его самым отличным манером. Это грубое, неумное, злое, капризное, лишенное всякой женственности, но не без дюжего кокетства существо (soit dit entre nous) – владеет им как своим крепостным человеком. И хоть бы он был ослеплен на ее счет! А то – нет. Но ведь – известное дело: это всё тайна – или, говоря правильнее – чепуха. Тут никто ничего не разберет, а кто попался – отдувайся, да еще, чего доброго, не кряхти.“, S. 235.

(078) Vgl. dazu: Troyat, S. 91 ff.

(079) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 610): „Толстой находится в Швейцарии, в Canton de Vaud, à Clarens, pension Perret. Он очень доволен своим местопребыванием, ходит по горам, работает, здоров и чувствует, по его словам, как красота вливается ему через глаза в душу, словно физическое ощущение. Дай бог ему! Ему и книги в руки. Я ему написал отсюда, не знаю, ответит ли он мне.“, S. 232.

(080) Письма III, Brief vom 16. 7. 1857: „Вы, должно быть, знаете, что брат Ваш Лев живет в Швейцарии – и, сколько слышно, живет славно: гуляет, весел, здоров, работает. Я ему написал отсюда, но до сих пор ответа не получил.“ („Sie wissen wahrscheinlich, dass Ihr Bruder in der Schweiz lebt – und soweit man hört, lebt er gut: geht spazieren, ist fröhlich, gesund, arbeitet. Ich habe ihm von hier geschrieben, aber bisher habe ich keine Antwort erhalten.“), S. 235.

(081) Письма III, Brief vom 29. 7. 1857 (Nr. 618): „... пришло письмо от Толстого из Бадена, в котором он уведомляет меня, что проигрался в рулетку в пух и до копейки, просит немедленно выслать 500 фр. и т. д. ...“, S. 241.

(082) ebd. (Nr. 618): „... по дороге завернул в Баден – и погиб.“, S. 241.

(083) ebd. (Nr. 618): „... поеду завтра в Баден, вытащу его оттуда и постараюсь уговорить поехать со мной через Страсбург и Париж в Fecamp – я думаю и ему не худо полечиться морскими ваннами.“, S. 241.

(084) Письма III, Brief vom 29. 7. 1857 (Nr. 620): „Voici donc ce que je fais: je m’en vais demain à Bade, où je me suis donné rendez-vous avec le comte Tolstoï – je m’achète un chien – (vous voyez que je suis incorrigible!) et je vais directement par Strasbourg et Paris à Dieppe ou à Boulogne.“, S. 242.

(085) Письма III, Brief vom 4. 8. 1857 (Nr. 621): „Я тебе писал, что я был намерен увезти его из Бадена и вместе с ним к тебе приехать. Но вышло совсем другое – я нашел его проигравшимся и с сильным < - - - >. Он сидел в Бадене, как в омуте, и совсем потерялся. Я предложил ему выехать со мною, и он согласился – как вдруг получает он письмо из дома, в котором извещают его, что сестра его, не будучи более в состоянии жить с мужем, у которого 4 любовницы и т. д., переехала на жительство к брату Ник<олаю> Николаевичу ... Толстой, по прочтении этого письма, решился немедленно ехать в Россию (его же и зовут туда) ... и в субботу Толстой уже будет плыть из Штеттина в Питер.“, S. 243.

(086) ebd. (Nr. 621): „... я обратился к Смирнову (мужу Александры Осиповны, которая, между нами сказать, есть стервó) – и он дал нужные деньги.“ („... ich wandte ich mich an Smirnov (den Mann der Aleksandra Osipovna, die, unter uns gesagt, ein Aas ist) – und er gab das nötige Geld.“), S. 244.

(087) Das Ehedrama der Schwester Tolstojs gehört sicher in die Kategorie ‚trivialer’ Beziehungsgeschichten. Eine der Geliebten des Mannes rennt aus Eifersucht auf eine der anderen zur Ehefrau und präsentiert dieser ein Schreiben, in dem der Gatte allerlei Überlegungen anstellt, wie er nach dem Tode seiner Frau das geerbte Geld durchzubringen gedenkt. Vgl. auch den Brief vom 10. 8. 1857 (Nr. 625, an A. A. Trubeckoj), in dem der Ehemann („ländlicher Heinrich VIII.“) eine durchaus amüsante Schilderung erfährt. Siehe: Письма III, S. 247 f.

(088) Troyat kolportiert das Gerücht, dass Turgenev der Vater dieses Kindes sei: „La question n’a pas été définitivement tranchée par les spécialistes de Tourgeniev. Mais la majorité d’entre eux croient à cette paternité et les descendants de la famille Viardot penchent pour la même hypothèse.“ („Diese Frage ist durch die Turgenev-Spezialisten nicht endgültig geklärt. Aber die Mehrzahl unter ihnen glaubt an diese Vaterschaft und die Nachkommen der Familie Viardot neigen zu derselben Hypothese.“) Siehe: Troyat, S. 94, Anm. 4.

H. Granjard vertritt eine gegenteilige Meinung: „Tourgénev revint de son exil dans sa patrie en août 1856, mais il trouva Mme Viardot plus lointaine que jamais et il s’en plaignait amèrement dans ses lettres à ses amis russes Botkin et Nékrassov.“ („Turgenev kehrte aus dem Exil in seiner Heimat im August 1856 zurück, aber er fand Mme Viardot weiter entfernt als jemals und er beklagte sich bitter darüber in seinen Briefen an seine russischen Freunde Botkin und Nekrasov.“) Siehe: Henri Granjard und Alexandre Zviguilsky, S. XV.

(089) Письма III, Brief vom 24. 7. 1857 (Nr. 616): „Je commence par vous embrasser et vous féliciter ...“, S. 239.

(090) ebd. (Nr. 616): „... vous devez être bien heureux: „des alouette vous chantent dans le cœur“, comme le dit un dicton russe.“, S. 239.

(091) Письма III, Brief vom 24. 7. 1857 (Nr. 617): „... (c’est un cri de joie que l’on n’emploie qu’à Cologne, mais je trouve qu’il fait bien).“, S. 240.

(092) Письма III, Brief vom 24. 7. 1857 (Nr. 617): „... ce petit être qui, hier encore, était vous, et qui a déjà maintenant une vie, un commencement de pensée, d’individualité à lui ...“, S. 240.

(093) ebd. (Nr. 617): „Je radote un peu, mais c’est pardonnable à mon âge et à la joie que m’a causée la grande nou-velle.“, S. 240. – Zur Erinnerung: Turgenev ist zu diesem Zeitpunkt 38 Jahre alt!

(094) ebd. (Nr. 617): „La communication des mots les plus spirituels qu’il aura déjà prononcés.“, S. 239.

(095) ebd. (Nr. 617): „Quand à la santé de la mère, vous verrez que dans deux ou trois jours vous ne voudrez plus rester couchée et que si vous ne dansez pas dans une semaine, c’est que vous aurez autre chose dans la tête.“,    S. 240.

(096) ebd. (Nr. 617): „Je deviens prophète, je lis dans la nuit de l’avenir, dans le Conversation’s Lexicon de 1950: ‘Viardot (Paul, Louis, Joachim), célèbre ... (je laisse le quoi en blanc), né à Courtavenel en Brie, etc., etc., fils de la célèbre Pauline Garcia, etc., etc. et de l’ingénieux écrivain et traducteur de ‘Don Quichotte.’ Je ne veux pas citer tout l’article.“, S. 240.

(097) ebd. (Nr. 617): „... date révolutionnaire que le petit sans-culotte a choisie pour faire son entrée dans le monde.“, S. 239.

(098) Письма III: „Следует согласиться с мнением А. Звигильского, который считает, что ошибка Тургенева носит преднамеренный характер: Тургенев намекает на события 20 июня 1792 г., когда состоялась демонстрация парижских народных масс ..., что было преддверием событий 10 августа 1792 г.“, S. 551.

(099) Письма III, Brief vom 24. 7. 1857 (Nr. 617), Anm. 2: „Упоминание о дне 20 июня содержит также намек на республиканские убеждения семьи Виардо ...“ („Die Erwähnung des 20. Juni enthält ebenso eine Anspielung auf die republikanische Gesinnung der Familie Viardot ...“), S. 551.

(100) Troyat, S. 48 ff.

(101) Troyat: „De cette brève expérience révolutionnaire il n’avait retiré qu’un enseignement: l’horreur des désordres, des mensonges, des sacrifices inutiles, des massacres méthodiques. Homme de réflexion et de paix il rêvait d’une amélioration de la condition populaire, mais ein dehors de toute violence.“, S. 51.

(102) Письма III, Brief vom 24. 7. 1857 (Nr. 617), Anm. 2: „... об этом же свидетельствует и приводимая Тургеневым в конце письма строка из ‚Марсельезы’.“ („... das bezeugt auch die am Ende des Briefes angeführte Zeile aus der ‚Marseillaise’.“), S. 552.

(103) H. Granjard spricht davon, dass Turgenevs Verhältnis zu Louis Viardot nicht immer frei von Ironie war: Die gemeinsame Jagdleidenschaft habe Viardot Turgenev nähergebracht, „der ihn [V.] als einen Freund schätzte, aber nicht immer seine ironischen Charakterzüge zurückhielt.“ („... qui le considérait comme un ami, mais ne retenait pas toujours ses traits ironiques.“). Siehe: Henri Granjard und Alexandre Zviguilsky, S. XVII.

(104) Письма III, Brief vom 24. 7. 1857 (Nr. 617): „Je vous écrirai demain ou après-demain d’une façon plus raisonnable;“, S. 240.

(105) Письма III, Brief vom 29. 7. 1857 (Nr. 620): „... je vous vois déjà levée et vous promenant dans la cour (c’est aujourd’hui le 9-me jour).“, S. 243.

(106) Zwar kein belegbares Argument, aber eine Beobachtung, die eine sehr auffällige Koinzidenz aufweist: Turgenev beginnt die Arbeit an seiner Erzählung Asja am 12. Juli – der Ich-Erzähler verlegt die Handlung jedoch in den Juni! Siehe: Сочинения V, Aся, Kap. I „дело было в июне“, S. 150.

(107) Письма III, Briefe Nr. 616 und 617, vom 24. 7. 1857: „Ich beginne damit, Sie zu umarmen“ ... „Ich beglückwünsche Sie alle und umarme alle!“ ... „Ich umarme Sie erneut alle, beginnend mit Mr. Paul...“, S. 239 f.

(108) Письма III, Brief vom 16. 7. 1857: „Расскажите мне, во-первых – как Вы здоровы – а потом – всё, что Вам будет угодно. Сообщите мне известия о графе (которому я кланяюсь и дружески жму руку) – об Ольге Петровне, о Ваших детках и в особенности о пленительном Николае Николаиче, который, я надеюсь, вернулся с Кавказа и живет с Вами. Скажите ему, что я его люблю от души и что его „рассказы“ прелестны.“, S. 235.

(109) Письма III, Brief vom 16. 7. 1857: „А зиму я проведу в Петербурге, где мне придется взять на руки хромающий „Современник“. Только не знаю, право, насколько мне удастся помочь ему. Выдохся я – или если еще не выдохся – то очень туго закупорился – что на одно и то же сбивается.“, S. 235 f.

(110) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 610): „Напишите мне, что Вы делаете и как живете в Симбирске. Хотя я сильно пришиблен и охладел почти ко всему, однако я чувствую, что привязан к Вам и с удовольствием увидел бы Ваши отрывчатые каракульки. Если Вы напишете тотчас по получении этого письма – то Ваше письмо застанет меня еще здесь.“, S. 232 f.

(111) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 611): „... songe qu’il me faut au moins des seconds prix!“, S. 233.

(112) Vgl. auch: Афанасьев/Боголепов: „Между отцом и дочерью не сложилось никакой близости.“ („Zwischen Vater und Tochter entstand keinerlei Vertrautheit.“), S. 207.

(113) Družinin, Aleksandr V. (1824–1864): Schriftsteller, Kritiker; zusammen mit T. Mitarbeiter des Sovremennik; freundschaftliches Verhältnis zu Turgenev.

(114) Письма III, Brief vom 25. 7. 1857 (Nr. 622, 1. Teil): „... но повинную голову меч не рубит – притом же не в первый раз приходится Вам прощать мне мои проступки.“ („... aber ein geständiges Haupt schlägt das Schwert nicht ab – wobei Sie nicht zu erstenmal genötigt sind, mir meine Vergehen zu verzeihen.“), S. 244.

(115) ebd. (Nr. 622, 1. Teil): „Давно бы следовало мне написать Вам – но я то разъезжал с места на место, то находился в очень дурном расположении духа – тут уж не до писем, особенно к таким особам, в которых не желал бы поселить дурное мнение о себе.  Наконец, однако, совесть стала слишком сильно угрызать меня – и вот я пишу Вам ...“, S. 244.

(116) Письма III, Brief vom 17. 7. 1857 (Nr. 614): „... потому что они оба – и брат и сестра – принадлежат к числу самых милых Русских, с какими мне только удавалось встречаться.“, S. 236.

(117) Herzen hat in einem Artikel „bissig und witzig die Witwenschaft der Kaiserin Aleksandra Fedorovna verspottet“ („едко и остроумно высмеял вдовствующую императрицу Александру Федоровну.“). Siehe: Письма III, Anm. 4 zum Brief vom 17. 7. 1857, S. 549.

(118) Письма III, Brief vom 17. 7. 1857 (Nr. 614): „Печатай 1, 2 части „Полярной звезды“ вторым изданием.“, S. 237. Es handelt sich um eine Zeitschrift mit literarischen und gesellschaftspolitischen Beiträgen, die bei den Auslandsrussen begehrt war, in Russland wegen der Zensur aber nur unter der Hand verbreitet werden konnte.

(119) („mein/meine“) „lieber/liebe (gute) Freund/NN“.

(120) „lieber/liebe NN/Freund/Gräfin“; Steigerungsform und Adjektivvariante: „liebster und lieber (liebster) NN/ Freund“.

(121) Письма III, Brief vom 29. 7. 1857: „Ich grüße Sie mit vollkommenster Hochachtung.“, S. 242.

(122) Письма III: Anm. 1 zum Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 611): „... начал писать повесть „Ася“, действие которой происходит в городке „З“, т. е. в том же Зинциге, описанном очень детально и точно.“, S. 548.

(123) Vgl. S. *** (6), Brief vom 25. 7. 1857 (1. Teil, an E. E. Lambert): Anm. 33.

(124) Hinweis auch bei Dornacher, S. 96; zusätzlich einiger Bemerkungen zur späteren Geschichte des Badehauses.

(125) Письма III, Brief vom 16. 7. 1857 (Nr. 612): „... привезу с собою повесть, которую я здесь начал и, бог даст, кончу.“, S. 233 f.

(126) Сочинения V, Примечания: „Ася. Рассказ. Начат в Зинциге на берегу Рейна 30-го июня/12 июля 1857 в воскресенье, кoнчень в Риме 15/27-го ноября того же года в пятницу ...“, S. 438.

(127) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 610): „Впрочем, так как Русские проникают повсюду, то и здесь отыскался Русский, ... , некто Никитин, офицер, покинувший свою карьеру для того, чтобы сделаться живописцем (кажется, талант у него есть). ... К нему в гости приезжали и сегодня уехали двое других Русских и тоже премилых, некто Сабуров и сестра его...“, S. 230 f.

(128) Auch im Brief vom 16. 7. 1857 (Nr. 613, an M. N. Tolstoj) berichtet er von Nikitin. Die Hinweise auf Nikitin und die Saburovs werden auch bei Dornacher (wie Anm. 1) aufgeführt, hier S. 96.

(129) Письма III, Brief vom 6. 7. 1857 (Nr. 609, an A. A. Trubeckoj): „Nous sommes ici au beau milieu d’une vaste et fertile plaine entourée de tous côtés par des montagnes. Il ne fait pas assez d’ombre – voilà le mal.“, S. 230.

(130) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 611): „Du reste, nous sommes ici dans un beau pays – au milieu d’une plaine fertile, entourée de hautes montagnes; malheureusement, le temps n’est pas trop favorable.“, S. 233.

Auch zitiert bei Dornacher, S. 96.

(131) Письма III, Brief vom 16. 7. 1857 (Nr. 613): „Перед окнами широкая долина, покрытая всякого рода хлебом, фруктовыми деревьями, – а на небосклоне – зубчатая линия гор, лежащих на правом берегу Рейна. Место хорошо – да тени мало.“, S. 236. – Ebenso: Dornacher, S. 96.

(132) СочиненияV, Ася, S. 157: „... за темной гранью круто рассеченных горных гребней ...“ („... hinter der dunklen Kante der steil zerklüfteten Bergkämme ...“).

(133) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 610, an P. V. Annenkov): „Мы вчера делали сообща большую прогулку по долине Ары; долина оказалась очень живописной.“, S. 231. Der Brief lässt keinen sicheren Schluss zu, ob man zu dritt oder zu viert unterwegs war.

(134) Письма III, Brief vom 9. 7. 1857 (Nr. 611, an Pauline Turgenev): „Cependant j’ai déjà fait deux ou trois excursions et le temps ne sera pas toujours mauvais.“, S. 233.

(135) Письма III, Brief vom 17. 7. 1857 (Nr. 614): „Хожу ужасно много – вчера ходил на гору ( 1400 ф. над поверхностью моря), восемь верст отсюда, взлез на самый верх, осмотрел базальтовые копи и тотчас же вернулся домой.“, S. 237.

(136) Brandes: „Han sagde til Michailov, Professor i fysiologi i Petersborg (fra hvem jeg har det): Jeg ser en Mand, som slaar meg ved et eller andet Træk, maaske et lidet bedydeligt. Jeg glemmer ham. Og saa, længe efter, opstaar dette Menneske pludseligt af Glemselens Grav. Omkring det Træk, jeg har lagt Mærke til hos ham, grupperer seg andre, og det nytter lidet, om jeg nu vil glemme ham; jeg kann det ikke; han besætter meg; jeg tænker med ham, lever i ham; jeg kan kun berolige meg ved at opfinde en Eksistens til ham.“, S. 503 f.

(137) Lotman: „В художественном осмыслении действительности он отличался исключительной прозорливостью и чуткостью.“, S. 120.

(138) Man vergleiche dazu Н. А. Островская «Воспоминаний об И. С. Тургеневе», in: С. М. Петрова и В. Г. Фридланд: И. С. Тургенев в воспоминаниях современиков. Москва, 1969, том II, c. 68

(139) Am Beispiel dieser drei realen Personen kann man sehr schön den von Brandes wiedergegebenen Sachverhalt nachvollziehen, vgl. S. 22.

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