Von Denise Steger
18.9.2013
Das Leben als „ständige Rechnung von Gewinn und Verlust“ – Jonahan, die Hauptfigur dieses kurzen Romans, gehört zu den Verlierern. An der Schwelle zum digitalen Zeitalter verliert er seine Arbeit, seine Freunde, und Schritt für Schritt auch seine Gesundheit. Auf sich selbst zurückgeworfen, stellt er die ihm gegenüberstehende Gesellschaft permanent und kritisch in Frage. Der Roman erschien in einer ersten Auflage in gedruckter Version 2009 und in einer zweiten, auf zehn Exemplare limitierten Auflage als handgebundenes Künstlerbuch mit Handzeichnungen und Grafiken bei Edition das Labor/ Mülheim a. d. Ruhr 2011. Der gesamte, leicht überarbeitete Text ist nachstehend zu lesen.
Jonahan und sein Gebet – ein lyrischer Roman
Kapitel I
Jonahan sitzt auf seinem Stuhl nahe am Fenster. Durch die schweren, nicht ganz zugezogenen Vorhänge fällt ein Sonnenstrahl in das halbdunkle Zimmer und zeichnet eine breite Lichtlinie auf den Teppich. Jonahans Blick verweilt an der Stelle, wo Licht und Teppich sich treffen. Als Kind war er dem geknüpften Muster aus Rauten, Punkten und Kreuzen mit den Augen immer wieder gefolgt. Er erinnert sich an die Wärme, als er einmal die Hand in den Lichtstrahl hielt, den er meinte fassen oder durch rasche Bewegungen verändern zu können, erinnert sich an seine Versuche, die flimmernd aufleuchtenden unzähligen Staubpartikel einzufangen und daran, wie verwundert er war, als er immer wieder ins Leere griff. Er glaubt, den eindringlichen Schmerz zu spüren, als das Licht seine Augen traf, er blinzeln musste und die Augen dann doch ganz weit aufriss, um die Helligkeit in sich hineinfluten zu lassen.
Sein Stuhl, ein Erbstück der Großmutter, war mit feingliedrigen Schnitzereien versehen und stand seit jeher am Fenster. Jonahans Neugier hatte damals den polierten Rosetten, blattartigen Mulden und gedrechselten Spiralen gegolten, die sich in dem massiven dunklen Holz hochwanden. Mit seinen kleinen Fingerkuppen war er den regelmäßigen Einkerbungen von den Stuhlbeinen über den mit dunkelrotem Leder gepolsterten Sitz bis zur hohen Lehne immer wieder nachgefahren. In seinen Gedanken hatte sich der Stuhl längst zu einer lebendigen Gestalt entwickelt, mit der er sich fast so gut unterhalten konnte wie mit Hank.
Hank stand schon im Dienst der Großmutter, als diese noch ein Landgut besaß. Nach ihrem Tod wurde das Gut verkauft, Jonahans Eltern zogen in die Stadt und Hank folgte, obwohl er oft betonte, wie ungeeignet er für das Stadtleben sei. Man hörte sein Fluchen, wenn er Holz im Schuppen stapelte, die Kartoffeln im Keller einlagerte oder den schmalen Gehsteig fegte. Er schien sich die weiten Felder zurück zu wünschen und auch die Pferde, mit denen er aufgewachsen war, und die er immer so gewissenhaft versorgt hatte. Das Stadthaus, ein zweistöckiger Bau aus dem neunzehnten Jahrhundert, war sehr geräumig, die Zimmer großzügig angelegt, dennoch schien das Gebäude in seiner Vornehmheit und gediegenen Begrenztheit Hanks Handlungsspielraum erheblich einzuschränken.
In Jonahans Phantasie dagegen war das Haus ein verzaubertes Reich, das fortwährend neue Gestalt annahm und in dem es ständig Geheimnisse zu erspüren gab. Eines dieser unergründlichen Geheimnisse lag in dem Gewölbekeller. Der Kellereingang befand sich am Ende des langen Hausflurs, genau unter der Treppe, die zur ersten Etage führte. Ein quadratischer Eisendeckel war in den Boden eingelassen, in seiner Mitte ein Haltegriff. Nur Hank gelang es, den schweren Deckel hochzuziehen und seitwärts zu klappen. Dass die Kellertreppe an der Wand, weit unter dem Fußbodenniveau begann, war allen ein Rätsel. Man musste sich erst auf den Rand der Bodenluke setzten und die Beine ganz lang strecken, um die ausgetretene obere Steinstufe zu erreichen. Dazu war es nötig, in gekrümmter Haltung zu verweilen, da man sonst mit dem Kopf an die über einem liegende Treppenunterseite gestoßen wäre. Dann musste man den Körper drehen, sich mit den Händen aber immer noch abstützen, um so den Abstieg sicher beginnen zu können. Für den langbeinigen, hoch aufgewachsenen Hank war der Einstieg genau so schwierig wie für den kleinen Jonahan, der mit seinen kurzen Beinen die Stufen ohne fremde Hilfe nicht erreichen konnte. Außerdem gab es kein Geländer, an dem er sich hätte festhalten können. Jeder Abstieg in die haltlose Tiefe flößte Jonahan Angst ein. Trotzdem wartete er immer mit Spannung auf die Tage, an denen Hank im Keller zu arbeiten hatte. Auf Hanks Armen, die ihn sicher die Stufen herunter hoben, verlor Jonahan schnell seine Angst, und einmal wieder auf die Füße gesetzt, konnte er auf Entdeckungsreise gehen. Seine Augen brauchten immer eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen; es gab kein Licht, außer dem spärlichen, das durch die Bodenluke die Treppe herunterfiel. Er spielte alsbald mit Kohlen und Kartoffeln, half Brikett aufstapeln und suchte die mit Backsteinen gemauerten Wände nach Nischen und Geheimgängen ab, die sich ja jederzeit vor ihm auftun und ihn in ein unterirdisches Reich führen konnten. Ab und zu nahm er auch Spielzeug mit, Figuren und Autos, die sich bei abenteuerlichen Spielen bewähren mussten. Ein kleiner Stoffrabe blieb dabei für immer verschollen, selbst nach intensiver Suche mit der Taschenlampe und Hanks geduldiger Hilfe konnte der kleine Liebling in keinem Winkel des Kellers gefunden werden.
Nachts träumte Jonahan von der Kellertreppe. Sie stand vor ihm im leeren Raum, drehte sich, wechselte ständig ihre Form, wurde mal klein, mal groß, mal ganz schmal und hoch und dann wieder ganz breit, war plötzlich weit weg und rückte dann wieder so nah, dass er sich durch den dunkelgrauen Stein bedroht fühlte. Wollte er die Treppe hochsteigen, hinderten ich unsichtbare Kräfte, drückten ihn fest auf die kalten Stufen nieder, dann wiederum schwanden diese unter seinen Füßen; die ausgetretenen Stellen wurden zu rutschigen Fallen, transformierten sich zur glatten Fläche und ließen ihn unaufhaltsam in die Tiefe gleiten; und plötzlich saß er wieder auf dem Rand der Kelleröffnung, ließ seine Beine länger werden, jeder Muskel bis aufs Äußerste gestreckt, bis seine Zehenspitzen fast die Treppenstufen antippten, er jedoch von seinem Sitz abrutschte und wieder in den Abgrund stürzte.
Damals, nach jedem Kelleraufenthalt, begaben sich Hank und Jonahan zum Waschen in die Küche. Sie lag im hinteren Teil des Hauses. Durch die kleinen, von außen vergitterten Fenster mit ihren milchigen Scheiben drang kaum Licht. Die ganze linke Seite des Raumes wurde von einem rieseigen Herd ausgefüllt, quer dazu stand eine lange Holzbank und ein ebenso langer Tisch. Hank, gewohnheitsgemäß einen Stapel Holz auf dem Arm, öffnete mit einer Eisenstange einen in die blank polierte Herdplatte eingelassenen runden Deckel und warf die Scheiten Stück für Stück in die Flammen, schloss den Deckel mit einem scheppernden Geräusch und setzte dann einen großen, mit Wasser gefüllten Kessel auf. Das erhitzte Wasser goss er in einen großen Bottich und fügte kaltes hinzu.
So sehr es Jonahan hasste, gewaschen zu werden, so sehr liebte er es, danach, in dicke Frottiertücher eingehüllt, auf der Bank zu setzen und auf das Abendessen zu warten. Mit einer alten Gabel, die nur noch zwei Zinken hatte, ritzte er Figuren und Zeichen in die Rückwand der Bank, leise, in sich versunken, eine Melodie vor sich hin brummend. Neben Strichen, ungelenken Kreisen und den ersten Buchstaben versuchte sich Jonahan auch an Tieren und Strichmännchen, wobei er selbst stets in Verwunderung und auch Entzücken geriet, wenn er durch seine Hand „Lebewesen“ schaffen konnte. Er gab ihnen in seinen Gedanken Namen und ließ sie miteinander sprechen. Im Laufe der Zeit hatte sich so schon eine ganze Welt versammelt, doch Jonahan fand immer noch Platz für einen Stern, einen Vogel, eine Katze, einen Hund oder das, was er in Quadraten, Rechtecken und Kreisen sah, die er mit Augen, Ohren, Nasen, Haaren, Armen und Beinen ausstattete. „Muster“ nannte er jene Felder, die er lediglich mit parallel eingeritzten Linien ausfüllte oder deren Oberflächenlackierung er ein über das andere Feld ganz abkratzte. Manchmal probierte er auch, die Ritzungen mit Farbstiften nachzuziehen, doch nahm das harte Holz der Bank die Farben nur bruchstückhaft an und durch den festen Druck, den Jonahan auf die Stifte ausüben musste, brachen die Farbspitzen ständig ab. Jonahan sah schließlich ein, dass die Stifte nicht zu gebrauchen waren; sie lieferten ihm nicht das farbige Ergebnis, dass er sich ausmalte.
Des Einritzens müde, wandte sich Jonahan auch gerne den auf der Bank abgelegten Zeitungen zu. Mit ernster Miene, so, wie er es bei seinem Vater jeden Morgen beobachten konnte, faltete er die Blätter auseinander, legte sie dann vor sich hin und fuhr mit dem Zeigefinger den schwarzen Großbuchstaben der Überschriften nach, versuchte, sie zu entziffern. Er murmelte dabei laut vor sich hin, in einer Sprache, die nur er verstand. Manchmal half Hank ihm bei den Buchstaben, doch dieser war am Lesen der Zeitungen nicht besonders interessiert. Hank benutzte sie zum Schuhe säubern oder wickelte das Gemüse darin ein. „In der Schule wirst du alles lernen“, sagte er.
Als Jonahan in die Schule kam, konnte er längst Lesen und Schreiben. Nicht ohne Stolz wusste er seinen Namen mit einem dünnen Griffel auf seine Schiefertafel zu setzten, exakt einen Buchstaben neben den anderen, in einer ganz geraden Linie. „Wie gedruckt“, hörte er den Lehrer ihn loben. Sein Name stand genau in der Mitte der Tafel, nicht so wie der seines Banknachbarn Elis, dessen Buchstaben schief, bucklig, mal groß, mal klein über die ganze Tafel tanzten. Nur das „o“ in seinem Namen ärgerte Jonahan, denn so sehr er sich auch bemühte, nie gelang ihm ein schöner Kreis. Seine „os“ waren entweder etwas zu lang in die Höhe gestreckt oder sie hatten irgendwo eine Delle, so wie der Mond, kurz bevor oder nachdem er voll am Himmel stand. Jonahans Ärger über seine Unzulänglichkeit konnte sich bis zur Wut steigern und endete meist damit, dass er mit dem Griffel krakelige, fest eingedrückte Striche in den Schiefer zog, bis von seinen Schreibübungen nichts mehr zu sehen war, und er dann alles weit von sich warf. Oft zerbrach Jonahan die Tafeln in viele Stückchen. Seine Wut verblasste dann aber sofort und er sammelte still die zahllosen scharfkantigen Teile auf, schnitt sich dabei häufig in die Finger, fühlte sich dumm, elend, verlassen und weinte.
Elis hatte Jonahans Sorgen nicht. Das Schreiben bereitete ihm viel Mühe. Er war froh, überhaupt ein Wort zusammensetzen zu können. Er ließ sich oft von Jonahan helfen – nicht nur in der Schule, sondern auch auf den gemeinsamen Streifzügen durch die Stadt. Elis hatte eine schmächtige Statur und seine haut war stets sehr blass. Immer, wenn er Jonahan im Winter zum Spielen abholte, trug er eine dicke Strickmütze, einen hellblauen Wollmantel und viel zu dünne, kleine Schuhe. Die beiden Freunde verließen das Haus in der Regel durch die Hintertür, die über eine kleine Treppe und einen verwilderten, in der Kälte struppigen Garten hinaus auf die Straße führte, die, schmal und wenig befahren, an einem der vielen zugefrorenen Kanäle der Stadt lag. Die Kinder liefen an dem hohen Geländer der Kaimauer entlang und streiften mit ihren verfilzten Handschuhen die vereisten Verstrebungen in regelmäßigen Abständen. Einmal entdeckten sie eine steile Eisenleiter, die zum gefrorenen Waser hinunterführte. Jonahan, der zuerst abstieg, achtete mit viel Umsicht darauf, dass Elis von den eisglatten Sprossen nicht abglitt und machte ihm Mut für den letzten Sprung auf die feste Eisdecke des Kanals. Alsdann überquerten sie halb laufend, halb rutschend die Eisstraße. Ihr Ziel war das andere, unbebaute Ufer, an dem eine Reihe eingefrorener Boote lag. Ihr uneingeschränktes Interesse galt einem alten Holzkahn, der beim letzten Herbsthochwasser reichlich Wasser geschluckt hatte. Jetzt, im Vereisten Zustand, waren unter der Oberfläche zahlreiche eingeschlossene Gegenstände zu erkennen. Jonahan und Elis rätselten um die verschwommen sichtbaren Einzelteile. Da vermuteten sie ein Stück Tau, hier vielleicht eine Zange und dort offensichtlich ein zersplittertes Ruder, dessen Ende aus dem schmutzig-grauen Eis herausstach. Die beiden Freunde kletterten in das Boot und Jonahan begann, mit seinem Taschenmesser das Eis aufzuhacken, um einen der Gegenstände zu bergen. Die Härte des Eises ließ die Klinge jedoch schnell abbrechen. Elis schaute nur zu. Er lachte schüchtern. „Lass doch“, sagte er und wischte mit seinem Handschuh zärtlich über die Eisfläche, so, als wollte er sie polieren. Jonahan schaute auf. Sein Blick traf den von Elis´ grünen Augen. Dieses Grün wurde immer heller, als wenn das Innere der Iris die Farbe einsaugen würde, bis sie glasklar wie reines Wasser schimmerte und Jonahan zum Wegsehen zwang, nach oben, in den blassgrauen Winterhimmel, der die Unendlichkeit von Elis´ Augen fortzusetzen schien. „In Venedig gibt es auch Kanäle, sie fließen ins Meer“ hörte er Elis sagen. „Aber dort ist es viel wärmer, es gibt kein Eis auf dem Wasser“. „Auf dem Wasser“, wiederholte Jonahan stirnrunzelnd, „aber das Wasser ist doch Eis.“ Elis verstand den Einwand nicht. „Alles ist Wasser, die Wolken sind auch Wasser“, erwiderte er, „und Venedig liegt in Italien, auf den Kanälen fahren Boote, lange, die Gondeln genannte werden und da gibt es Paläste, große, reiche. Ich habe sie gesehen, mein Vater hat sie mir gezeigt, auf einem alten Gemälde, das im Museum hängt.“ Elis Stimme wurde aufgeregter und auf seinen Wangen stellte sich eine leichte Rötung ein. „Ich kann die das Bild zeigen, ich weiß genau, wo es hängt, lass uns gleich gehen.“
Jonahan konnte Elis´ plötzliche Begeisterung nicht ganz teilen, hielt das Vorhaben, ins Städtische Museum zu gehen, für undurchführbar, aber verärgert wegen seinem zerbrochenen Messer und entmutig durch seine missglückte Eisaktion, ließ er Elis freie Hand und folgte dem nun Vorauseilenden in Richtung Kaimauer. Jonahan war noch nie in einem Museum gewesen.
Die Kinder durchquerten zahllose Straßen, am Anfang laufend, keuchend, dann müder werdend. „Es ist zu weit“, versuchte Jonahan Elis zum Umkehren zu überreden, doch dieser ließ sich nicht beirren. „Gar nicht weit – wir sind bald da!“ Die Eingänge des Museums waren über eine imposante Freitreppe zu erreichen. An jenem kalten Februartag, es muss schon früher Abend gewesen sein, waren keine Menschen mehr auf der Treppe. Jonahan und Elis stiegen langsam hoch, schweigend, sie fühlten sich schutzlos inmitten der leeren Stufen, angreifbar, ausgeliefert. Die schweren Steinquadermauern des Gebäudes flößten ihnen beim näher kommen zunehmend Angst ein. Die Eingänge waren dunkel und schienen verschlossen. „Lass uns wieder gehen“, flüsterte Jonahan und, als er Elis´ traurigen Ausdruck bemerkte, „wir gehen ein anderes mal.“ Sie kehrten um, müde, erschöpft und durchfroren. Es war dunkel, als sie sich trennten.
Jonahan sah Elis nicht wieder. Zuerst hieß es, er wäre krank, dann hörte er seine Mutter sagen, er hätte sich den Tod geholt, er wäre ja schon immer eine schwache Natur gewesen. Jonahan konnte den Verlust seines Freundes kaum ertragen. Abends, wenn vor dem Einschlafen ihre gemeinsamen Streifzüge wieder lebendig wurden, spürte er in seiner Bauchmitte einen tiefen Schmerz, der sich zusammenzog, sich über sein Herz ausbreitete um dann, übermächtig, heftige Tränen aus seinen Augen zu pressen. Jonahan betete zu Gott, dass er Elis beschützen möge und dass er es für immer gut haben solle.
Seit jenen Tagen nahmen Prozessionen in Jonahans Spiel einen großen Raum ein. All sein Spielzeug und darüber hinaus alle auffindbaren Kleinteile wurden in strenger Größenordnung in einer langen Schlange durch die Zimmer gestellt. Das große Lastauto voran, dann der dicke Teddybär, dahinter ein wackeliger Holzhase, dessen dicke rote Räder verbogen waren, so dass er ständig eierte, wenn Jonahan ihn anschob, dahinter sämtliche Puppen und Figuren, die Kasperlmannschaft, dann die kleineren Plüschtiere, die Modellautos, eine Reihe Bücher, das Zahnputzglas, ausgediente Haarbürsten, leere Garnrollen, ein verschrumpelter Luftballon, hölzerne, bunt lackierte Bauklötze, Perlen…Eine Sonderstellung erhielt die kleine geschnitzte Elenbeinfigur, eine schlanke weibliche Gestalt, die im Wohnzimmerschrank stand. Jonahan hing ihr ein handgearbeitetes weißes Zierdeckchen über und ließ sie würdevoll die Prozession abschreiten, stellte sie dann allen voran, um den Zug zu dirigieren. Dann wurde aus den Sachen ein Kreis gebildet, einzelne Gruppen abgespalten, nach Farben und Gattungen eingeteilt, Manches auch gnadenlos ausgestoßen, wenn es Jonahans Sinn für ein geordnetes Bild störte. Er baute Altäre und bestimmte den großen Teddy dazu, „Opfer“ auszuwählen. Die Auserwählten werten sich, es gab erbitterte Kämpfe und bald schon flogen alle Gegenstände durcheinander, landeten weit verstreut im ganzen Zimmer. Nur die Elfenbeinfigur hielt Jonahan aus Allem heraus und hob sie wieder vorsichtig auf ihren alten Platz.
Auch David, der dicken Kaktee durfte nichts zustoßen. Alle Pflanzen im Haus trugen Namen. Jonahan hatte vor langer Zeit schon angefangen, jeder Topf- und selbst jeder einzelnen Schnittblume im Haus einen Namen zu verleihen. Seine Eltern und auch Hank hatten diese Namen übernommen. So hörte Jonahan eines Tages seine Mutter laut jammern, dass Anabella viel zu viel gegossen worden wäre; sein Vater erwähnte, dass die dickstämmigen Dahlien, Maria und Josephine III. nun leider verwelkt wären, und man sie doch bitte vom Tisch nehmen sollte, und Hank schimpfte über David, an dem er sich dauernd stach. Auch andere Wortschöpfungen Jonahans wurden von der Familie verwendet. So nannte er den Wohnzimmerschrank „Sarago“, und so sehr es eine Normalität, ja Selbstverständlichkeit war, dass die Mutter sagte, „Hank, hole doch bitte die Gläser aus dem Sarago“, so sehr stiftete dieser Satz in Anwesenheit von Besuchern Verwirrung.
Jonahan mochte keine Besucher. Sie störten ihn in seinem Spiel und stellten dumme Fragen, Fragen, die sich für ihn nicht stellten, deren Bedeutung und Wichtigkeit er nicht verstand. Er weigerte sich, sie zu beantworten und stand meist nur ganz stumm da. Sein Blick fragte seinerseits. Manchmal verkroch er sich unter dem Wohnzimmertisch und kein gutes Zureden, keine noch so verlockenden Angebote wie, Geld, Kuchen oder sogar Eis konnten ihn darunter hervor bewegen. Jonahan galt als verstockt; er ließ seine Mutter für ihn antworten, sich für ihn entschuldigen. Er hörte sie sagen, dass er hervorragend im Rechnen sei und eine Auszeichnung fürs Schönschreiben bekommen hätte. Für Jonahan waren diese Leistungen selbstverständlich, keiner Worte wert, und sie gingen diese fremden Leute, diese Besucher, auch gar nichts an. Wenn eben möglich flüchtete er sich zu Hank. Bei ihm konnte er sich nützlich machen, zum Beispiel bei der Reinigung und Aufarbeitung des Küchentischs helfen. Hank gab Jonahan stets Arbeit, die er dann mit Begeisterung und Eifer ausführte.
Kapitel II
Eines Tages nahm Hank sich vor, die Küchenbank zu streichen. Vorher musste er „all das Gekritzel“, wie er es nannte, abschleifen. ER bediente sich dazu einer kleinen elektrischen Maschine. Jonahan war fassungslos. Er versuchte Hank mit aller Gewalt an dem Vorhaben zu hindern, schlug mit den Fäusten auf seinen großen Freund ein, zerrte an seinem Pullover, bis er riss. Jonahan biss, kratzte und schrie, schrie so heftig, dass ihm schwindlig wurde, die Erde unter seinen Füßen zu schwanken begann. Dann überkam ihn Kälte. In seinen Ohren stellte sich ein Rauschen ein, so, als wenn Wasser einen Felsen herabstürzt. Er bemerkte, dass seine Zähne klapperten und er am ganzen Leib zitterte. Erschreckt über die Veränderung, die mit ihm vorging, wankte er still aus der Küche, kauerte sich im Hausflur in den Garderobenschrank, dort, wo ihn hinter den langen Mänteln niemand entdecken konnte. Er verhielt sich ganz ruhig, schloss die Augen. Ihn schmerzte so unendlich tief der Verlust seiner Figuren, die ihm so vertraut und die aus ihm gewachsen waren, deren Einzel- und Eigenheiten er in jeder Ritzung kannte und die ihn jahrelang begleitet hatten – aber auch, dass gerade Hank, sein Hank, ausgerechnet er ihm das angetan hatte, er, von dem Jonahan immer geglaubt hatte, der Einzige zu sein, der ihn verstünde, mit dessen Blicken und Gesten er sich immer in einer stummen Übereinkunft wähnte – Hank!
Als Jonahan die Augen öffnete, sah er lange ins Dunkel. Er dachte an gar Nichts. Er verließ zerschlagen den Schrank. Seine Arme hingen bleischwer an ihm herab. In seinem Innern war es ganz still. Das Haus wirkte anders als sonst. Sein Blick fiel auf Dinge, die er zuvor nicht wahrgenommen hatte, auch auf das Zifferblatt der schmalen Standuhr, wo zwei kitschig gemalte dickbauchige Engel die mittägliche 12 mit ihren kurzen Armen zu halten schienen. Ihr verklärter, nach oben gerichteter Blick und ihr weißlicher Teint machten auf Jonahan einen unlebendigen Eindruck.
Im Wohnzimmer versuchte Jonahan die unterste Schublade des Bücherschranks herauszuziehen. Er hatte Mühe, da der alte Kasten sich mit den Jahrzehnten verzogen hatte und klemmte. Jonahan schaffte nur eine spaltbreite Öffnung, gerade groß genug, um mit seinen Händen hinein zufassen und einen jener dünnen breitformatigen Folianten hervorzuholen, die sein Vater nur an ganz besonderen Tagen aufschlug. Jonahan liebte es, auf dem Teppich zu sitzen und die alten Bücher durchzublättern, sich die fremdartigen, kostbar aufgemalten Zeichen genau anzusehen, sich von den geschwungenen Linien führen zu lassen, sie in kunstvollen Schnörkeln endeten. Für den Sinn des Geschriebenen interessierte sich Jonahan nicht, nur für das Bild der Schrift und die Schönheit einer gestalteten Seite. An jenem traurigen Tag machte sich Jonahan daran, die Zeichen zu kopieren, Zeile für Zeile, Seite für Seite, so lange, bis er einen stechenden Schmerz vom Handgelenk bis zum Ellenbogen fühlte und kaum noch in der Lage war, seinen Stift zu halten. Er legte ihn beiseite, ließ seinen Kopf auf das aufgeschlagene Buch sinken und schlief erschöpft ein.
Monate später verließ Hank das Haus „um seinen Lebensabend auf dem Land zu verbringen“. Auf seine Verabschiedung legte Jonahan keinen Wert. Bei seiner Abreise empfand er kein Bedauern. Seine Jahre mit Hank waren ausgewischt.
Kapitel III
Jonahan fand nach seiner Schulzeit Lehrstelle und Arbeit bei einem kleinen Tabakvertrieb. Das Unternehmen lag nur einige Straßen von seinem elterlichen Haus entfernt, zu Fuß bequem zu erreichen, ein breites flaches Gebäude, direkt am Kanal. Über ein schmales Treppchen gelangte man zu einer Seitentür, die zu den Büroräumen führte. Der Firmeninhaber war ein kleiner dicker, schon etwas älterer Herr, der ständig Zigarren rauchte, sie auch beim Sprechen nicht aus dem Mund nahm. So gab er alle Anweisungen in einem nuscheligen Ton, wobei der Zigarrenstummel in seinem Mundwinkel nach unten hing oder leicht auf und ab wippte. Sein Gesicht war ständig von Rauch umgeben, den er durch Nase, Ohren und zwischen den gelblichen Zähnen auspaffte. Auch seine Kleidung roch stark nach Rauch, wie überhaupt die ganzen Büros. Jonahan musste sich an all das gewöhnen. Schon nach kurzer Zeit wurde ihm eine Vertrauensstellung in der Buchhaltung übertragen. Sein Arbeitstisch stand quer zu einem großen Fenster, das ihm Ausblick auf den Kanal bot. Wenn Schnee gefallen war, warf das Tageslicht einen hellen Schimmer auf seine blassen Hände. Vor ihm lag immer das großformatige Buchungsjournal, mit den breiten weißen Papierseiten, die durch schmalste rote und grüne Linien in zahlreiche Spalten eingeteilt waren.
Und Jonahan schrieb seine exakten, feinstrichigen Zahlen unter- und nebeneinander, führte alle Posten des Warenein- und Ausgangs sorgfältig auf, trennte und ordnete, addierte, subtrahierte, errechnete Quersummen. Er wachte peinlich genau über die Korrektheit der Unternehmensfinanzen. Rechts neben ihm auf den Tisch stand eine elektrische Rechenmaschine, fast schon eine Antiquität. Sie warf Ergebnisse sehr langsam aus. Jonahan benutzte sie kaum; sein Kopfrechnen war schneller, unaufwendiger, leiser und fehlerlos. Seine Fähigkeiten im Rechnen hatten ihm schon in der Schule sowohl bei Klassenkameraden als auch bei Lehrern Bewunderung eingetragen. Hier an seinem Schreibtisch konnte er diese Fähigkeiten nutzen. Sein Chef zeigte ihm einmal Prospekte von Computern – auf dem neuesten Stand, versteht sich. Die kunstvoll fotogarfierten und in Hochglanz gedruckten grau-schwarzen Apparate strahlten eine Eleganz aus, die auf Jonahan Eindruck machte. Die flachen Gehäuseformen, die abgerundeten Kanten der Tastatur, die Anordnung der Zahlen sowohl in einer langen Reihe als auch in einem kleinen Quadrat gefielen Jonahan außerordentlich gut – doch wozu anschaffen? Warum benutzen? Jonahans Rechenfähigkeiten reichten für den kleinen Betrieb aus und verursachten keine zusätzlichen Kosten. Er riet vom Kauf ab.
Nicht weit vom Büro befand sich ein Bootssteg. Während der Mittagspause, auch nach Dienstschluss und an den Wochenenden, verbrachte Jonahan seine Zeit dort mit einem hölzernen Kahn. Er hatte ihn einem jungen Arbeitslosen, der am Ufer wohnte, abgekauft. Jonahans Freizeit wurde durch Ausbesserungsarbeiten am Boot völlig ausgefüllt. Mit der ihm eigenen großen Sorgfalt dichtete er Planken ab, überzog das Holz mehrfach mit Schutzlack, erneuerte die Sitzbank, schliff die kantigen Ruder. Solange das Wasser noch kein Eis trug, saß er in seinem Kahn, aß seine Brote und hörte den leisen kleinen Wellen zu.
Kapitel IV
Nach dem Tod der Mutter wirkte das Haus kalt und ungebraucht. Der Herd in der Küche wurde nicht mehr benutzt; Jonahan machte sich nicht die Mühe, ihn in Gang zu bringen. Er hielt sich meistens nur im Wohnzimmer auf. Unter den Sachen seiner Mutter fand er seine erste Schiefertafel, auf die er seinen Namen geschrieben und sie voll Stolz mit nach Hause gebracht hatte. Seine Mutter hatte ihm damals etliche neue für die Schule gekauft, um die erste als Andenken aufheben zu können. Sie ließ eigens einen Rahmen anfertigen und hing das Bild in ihr Zimmer. Jonahan nahm den Rahmen in beide Hände und betrachtete verträumt die steilen Buchstaben. Mit Wehmut dachte er an seine Mutter, deren Platz in seinem Leben immer so selbstverständlich gewesen war. Er legte die Tafel beiseite, mochte sie nun nicht mehr ansehen. Sein Blick fiel auf die zart getönte, mit kleinen Blumen übersäte Tapete, deren Muster sich in den Vorhängen der hohen Fenster fortsetzte. Er erinnerte sich an die Stunden, als seine Mutter die Stoffe nähte, mit ihrer ersten elektrischen Nähmaschine, die sehr schwer zu heben war und mit der sie einige Mühe hatte, zurecht zu kommen. Jonahan durfte beim Nähen zusehen, aber die Maschine nicht berühren, er hätte sich aus Unachtsamkeit verletzen können, durch diese spitze Nadel, die sich in rasendem Tempo auf- und ab bewegte. Aber ihn hatten all die Hebel der Maschine fasziniert, besonders auch der Lauf des Fadens, der über viele Haken und Stationen, Drehungen und Windungen von der Garnrolle zur Nadel herunter geführt wurde. Daneben gab es noch einen Unterfaden, der, auf einer kleinen silbernen Spule aufgewickelt, aus einer Bodenklappe von der Nadel automatische herauf geholt wurde und sich mit dem Oberfaden zu einer Naht verband. Die Mutter hatte Jonahan auch einmal einen Sonntagsanzug genäht, aber er dachte nicht gerne daran zurück. Die Anprobe des halbfertigen Anzugs war ihm unangenehm gewesen, musste er doch lange Zeit ganz still stehen und dann das Picken der Stecknadeln ertragen, die an dem Stoff überall hafteten. Der Anzug hatte ihm auch nie richtig gepasst, war irgendwie zu eng gewesen. An den Tagen, an denen er ihn tragen musste, hatte er keine gute Zeit.
Das Zimmer der Mutter, auf der ersten Etage gelegen, war das hellste und freundlichste des Hauses. Jonahan schaute aus dem Fenster auf die nasse Straße, mit schmutzigen Schneeresten an ihren Rändern. Ruhe und Kälte lagen über seinem Körper. Er konnte seit Mutters Tod keine Musik mehr hören. Jeder noch so erhabene Klang konnte seine Trauer nicht erreichen. Er konnte auch nicht weinen. Er fühlte nur eine unbarmherzige Erschlagenheit, dazu kam Müdigkeit, die ihn manchmal lähmend überfiel. Ihm wurde Angst bei dem Gedanken, dass sich sein Leben verändern und er sich verändern würde, in einer Weise, die er jetzt noch nicht vorhersehen konnte, die als etwas Ungreifbares, etwas Ungutes vor ihm stand. Jetzt, in der Leere des Wohnlichen, in dem so schönen Zimmer seiner Mutter, wurde ihm seine Angst voll bewusst. Er rannte aus dem haus, doch da war kein Ort, der ihm Trost und Halt hätte spenden können.
Es waren jene Tage, an denen Jonahan glaubte, es müsse etwas ganz besonderes geschehen, aber Nichts würde geschehen und er würde ziellos durch die Straßen gehen und genauso wieder zurückkehren, in das leere Haus, und er würde keine Lösung für seinen Zustand gefunden haben, würde sich damit abfinden, ihn einfach ertragen zu müssen. Die Zeit würde ihn ändern, langsam und stetig würde er in die Zeit hineinwachsen, in die neue Zeit.
Jonahan ging aus der Stadt heraus, auf einen kleinen Berg zu. Ganz oben stand eine verfallene Kapelle. Der unebene Weg unter seinen Füßen war frostig, an manchen Stellen aufgeweicht, dort, wo die spärlichen Sonnenstrahlen ihn getroffen hatten. Jonahan ging langsam, mit gesenktem Blick, seine Hände tief in die Manteltaschen vergraben. Ihm fiel ein Gedicht ein, das er vor einiger Zeit gelesen und abgeschrieben hatte.
Nach Favas
Zuerst sah ich Platanen ohne Äste.
Sie säumten einen gepflasterten Platz.
Ich sah solche Bäume wieder,
sie standen an den Straßen aus der Stadt,
bildeten lange Schattenmuster,
dahinter Gestrüpp und Geröll.
Die Sonne, noch nicht sichtbar,
war aufgegangen.
Ihr Licht veränderte Vieles.
Das Weiß-Lila der Blumen am Wegrand und
die Helle über den Feldern
verbreiteten Zärtlichkeit.
Ein kühler leichter Wind und
die steinige Erde unter den Füßen
belebten die Sinne.
Später, entlang den Alleen,
sprachen wir über das Meer und
die Form der Berge aus weißem Gestein und
von den Platanen,
die bald wieder Laub tragen würden.
Erst als Jonahan die Bergkuppe erreicht hatte, hob er seinen Kopf. Er hoffte, schon den Frühling spüren zu können, hoffte auf einen kleinen Fingerzeig der Natur, dass der Winter endlich im Abklingen war, suchte mit seinem Blick die Sträucher nach noch fest verschlossenen Knospen ab, aber nichts, nur ein eisiger Wind. „Warum ist bloß immer Winter?“ fragte sich Jonahan.
Der Eingang der Kapelle war mit groben Brettern zugenagelt, aber es gab genug Spalten, durch die man sich ins Innere zwängen konnte. Der quadratische Andachtsraum war leer, die gewölbte Decke an vielen Stellen eingebrochen. Der Himmel zeichnete helle Flecken auf den mit Schutt bedeckten Boden. Jonahan konnte die feinen Wandmalereien nur erahnen, die zahlreichen symmetrischen Musterbänder, die an den Wänden entlangliefen und jetzt, verblasst, teilweise abgeblättert, im Halbdunkel kaum erkennbar waren. Rechts auf dem Boden stand eine breite Holzkiste, bis zum Rand mit Sand aufgefüllt. In dem Sand steckten viel kurze erloschene Kerzen. Jonahan bemerkte neben der Kiste eine alte Pappschachtel, in der noch ungebrauchte, aber völlig verstaubte Kerzen lagen. Er bückte sich, nahm eine der Kerzen auf und legte dafür reflexartig ein Geldstück in die Schachtel, steckte seine Kerze zu den anderen in den Sand, bohrte sie tief ein, rückte sie gerade und zündete sie mit seinem Feuerzeug an; dann begann er, auch alle anderen Kerzen anzuzünden. Von manchen, deren Docht zu kurz war, kratzte er mit dem Daumennagel das Wachs etwas ab. Der Zugwind, der durch alle offenen Stellen des Gebäudes drang, ließ die Kerzen hell aufflackern. Die momentane Helligkeit, der süße Duft, den die Kerzen verbreiteten, erweckten eine feierliche Stimmung. Jonahan stand lange so da, bis vor seinen Augen nur noch helle Punkte tanzten. Er wandte sich dann schnell ab und kletterte wieder nach draußen. Das Tageslicht, das sich mit den kreisenden Punkten traf, machte Jonahan für einen Augenblick blind. Er bedeckte seine Augen mit den Händen und drückte seine Fingerspitzen fest in die Augenwinkel zu Nase hin.
Als Jonahan die Hände herunternahm und die Augen wieder öffnete, bot sich ihm eine weite Sicht über das Tal. Helle, Schnee bedeckte Felder wechselten mit schwarzen Flächen, verschwanden im Horizont. Jonahan liebte dieses unbegrenzte Schauen, doch an jenem Tag spürte er eine Grenze in sich selbst, gegen die er nicht anzukommen wusste. Unbeteiligt nahm er die zahllosen Dächer der Stadt wahr, die Kuppeln der großen Gebäude, die durch ihre feuchte Oberfläche glänzten, wenn sie ein Sonnenstrahl traf, die vielen Muster von Licht und Schatten, von Weite und Nähe, verschwommen und klar – das Geröll zu seinen Füßen und den Sendemast in der Ferne. „Mein ganzes Leben habe ich Bücher aufgeschlagen, glaubte, darin lesen zu können und verstand doch keinen Satz, nicht einmal ein Wort, kein einziges.“ In Jonahan stieg Unbehagen hoch, sein Mantel wurde ihm zu eng, seine Haut fühlte er unangenehm schwer an den Körper gedrückt. Missmutig begann er den Abstieg. Seine aufgelöste Stimmung beruhigte sich erst wieder, als er von dem städtischen Getümmel aufgenommen wurde.
Nach Büroschluss waren viele Leute unterwegs, die Läden gut besucht, die Verkaufsstände überfüllt. Jonahan ließ sich durch die Vielfalt ablenken, kaufte sich in einem Stehcafé einen Becher heißen Tee und ein Quarkplätzchen, schaute auf die Menschen, die sich an ihm vorbeizwängten. Er dachte an gar nichts. „Jonahan, du schläfst mit offenen Augen“, hörte er dann eine Stimme hinter sich. „Wie geht es dir? Bist du krank? Ich habe dich tagelang nicht im Büro gesehen.“ Jonahan sah seinen unerwartet aufgetauchten Kollegen an, als sähe er ihn zum ersten Mal. „Krank“, antwortete er abwesend, „nein, ich bin nicht krank“ – oder vielleicht doch? „Meine Mutter ist gestorben“, sagte Jonahan mit fester Stimme. „Oh, Verzeihung, mein Beileid, ich verstehe.“ „Wie kann er verstehen, wenn ich nicht verstehe? Gar nichts“, dachte Jonahan bei sich, „die Leute sagen immer dasselbe und verstehen gar nichts. Jeder hat seine unvergleichbare Trauer, die er mit niemanden teilen kann, jeder hat ein Recht auf seine ihm eigene Trauer!“ Jonahans Stimmung sank wieder auf einen Tiefpunkt. Er wusste mit seinem Gegenüber nichts anzufangen. „Ich muss jetzt gehen, war nett, dich zu treffen“, murmelte Jonahan. Dann verließ er hastig den Ort der Begegnung.
„Leergefegt ist mein Kopf. Leere, zu viel davon, Regungslosigkeit, Starre. Da ist Nichts, Nichts und wieder Nichts, keine Frage, kein Interesse, Gleichgültigkeit, Untätigkeit. Warum, weiß ich nicht. Warum gehe ich nicht weiter? Wo ist der Antrieb? Wo ist die Hilfe? Unsinn, bloß nicht darüber nachdenken. Du denkst zu viel – ich denke gar nichts, kann gar nicht denken, kann an nichts denken. Nach Hause? Nein, nein, bloß nicht daran denken. An was zurückdenken, das mich hält? Auf was hoffen, das mir Kraft gibt. Woraus schöpfen? Schreiben – aber was? Schreiben, bis die Hand schmerzt. Der Stift weiß, was er tut. Ich lasse ihn tun, immer weiter schreibt er Wörter, nein: Buchstaben w, a, w, x, a, z, Stopp – Denken verboten!“
Worte, wenn die Formen stoppen und
der Körper sich nicht mehr bewegen will,
nur sitzen und denken und
die Worte kommen heraus aus den Gedanken
in einer geheimen Ordnung.
Ich lasse sie gehen ohne eigene Vorstellung,
lasse sie vorbei gehen,
stumm vorbei gehen.
Die Heide blühte.
Das Heidekraut, es war klein und zart.
In vollendeten Büschen stand es an den Felsen,
in hellem Lila.
Kleiner, als ich es je sah und lieblicher,
gar nicht strohig, ganz frisch und dicht.
Und Felsen waren wie Schafe, Schafe wie Felsen,
waren scheu, liefen weg.
„Da ist Doggie, ein Hund mit einem kranken Auge, mager und hoch auf den Beinen. Er freut sich, lässt sich streicheln, rennt voraus und kehrt zurück, lächelt, ist stolz, einen Freund gefunden zu haben. Er sieht die Autos nicht, ich rufe. Er bleibt für einen Augenblick neben mir, als wüsste er den Weg, meinen Weg, und dann der Satz über den Graben, er ist enorm weit, ich denke, nur ein Pferd könne ihn schaffen, doch der Hund springt so wunderbar leicht und läuft weiter.“
Jonahan verlor Doggie aus den Augen und betrat ein Blumengeschäft. Er kaufte einen Strauß weißer Lilien und beeilte sich jetzt, nach Hause zu gelangen. Er stellte die vielblütigen Stängel in eine Kristallvase, genau in die Mitte des Wohnzimmertisches. Mit beiden Händen hielt er die Vase umfasst, so, als müsse er sie festhalten. Er zog den betäubenden Duft der schneeweißen Blüten ein. Als sich seine Hände von der Vase gelöst hatten, strich er mit der Außenkante seines kleinen Fingers an den Rändern der Blütenblätter entlang. „Katharina“ – Jonahan lächelte. Ein Gefühl des Friedens und der Ruhe breiteten sich in ihm aus – so was wie Glück.
In Jonahans Betrieb herrschte eine gespannte Atmosphäre. Die Auftragslage ließ zu wünschen übrig, der Umsatz war rapide zurückgegangen. Jonahan konnte in seinen Büchern die Bedrohung des stetig bis zum finanziellen Ruin absinkenden Unternehmens ablesen. Sein Chef hatte nicht mehr die Energie, der wachsenden, mit modernsten marktgerechten Methoden arbeitenden Konkurrenz sowie dem negativen Stimmungsumschwung in der Tabakindustrie entgegenzutreten. Alt und kränkelnd dachte er an den baldmöglichsten Verkauf der Firma. Einige Kaufinteressierte sah Jonahan durch den Betrieb gehen; sie wurden von seinem Chef begleitet, der, wie immer einen Zigarrenstummel im Mundwinkel, auf die Besucher einredete. Er gab sich als seriöser, erfahrener Geschäftsmann, nannte aber Umsatzzahlen, die an der Wahrheit weit vorbeigingen. Er spielte sich mit ausladenden Gesten auf, doch kaum zu übersehen war sein schlecht sitzender Anzug, der wie die meisten seiner Kleidungsstücke viele kleine Brandlöscher hatte. Sein übergewichtiger Körper, sein japsendes Atmen, sein überheblich hin gesabbertes Gerede und der ständige Rauch, der ihn begleitete – Jonahan mochte seinen Chef nicht, hatte ihn eigentlich nie gemocht und schon seit einiger Zeit sich mit dem Gedanken vertraut gemacht, die Arbeitsstelle zu wechseln.
Jonahan studierte mit prüfenden Blicken Seite für Seite der Stelleninserate, beschäftigte sich mit dem Anfertigen von Bewerbungsschreiben und versuchte, seine Vorstellungen von Arbeit und Zukunft zu formulieren und darzulegen. Zum ersten Mal in seinem leben machte er sich Gedanken um Lebensplanung. Dennoch war es ihm nur schwer möglich, sich einer intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst und seinem Gegenüber, der Welt, zu stellen. Er schob diese ihm unangenehme und belastende Pflicht Tag für Tag vor sich her, in der Hoffnung, der Zufall würde ihm eine Möglichkeit auftun, die ihn aller Sorgen enthebe.
„Lebenslauf – den gibt es nicht. Mein Leben ist nicht verlaufen; es hat sich jeden Tag ereignet. Ein Begriff wie „Laufbahn“ ist fehl am Platz; es gibt keine Bahn und keine Bahnen sondern sehr viele Wege, Nebenwege, Umwege, gar keine Wege, Stellen und Plätze, auf denen ich war, die aber nicht meine Plätze waren, meinen Platz habe ich nie gefunden, denn es gibt ihn nicht.“
„Geburtsdatum – was soll es denn bedeuten? Ich glaube nicht an eine Zeit, sie ist immer dieselbe, eine ständige Variation des Ursprünglichen, Geburt und Tod geschehen zusammen, eine tagtägliche Rechnung von Gewinn und Verlust.“
Die Qualifikationsnachweise, die Firmen auf seine Bewerbungen zusätzlich verlangten, konnte Jonahan nicht liefern. Die Anforderungen erschienen ihm zu hoch. Die Antworten, die er erhielt, empfand er als unpersönlich, teilweise kränkend. Ihm, dem doch so souveränen, gewissenhaften und fleißigen Angestellten, wurde als Unbekanntem nicht das geringste Vertrauen entgegen gebracht. Die gedruckten schwarzen Worte der vielen Absagen kamen ihm unerbittlich, gnadenlos und unmenschlich vor. Sie stellten für ihn keine Verbindung zu seiner tatsächlichen Arbeit her; seine Gefühle, die er für seine Tätigkeit entwickelt hatte, waren nicht von Interesse. Was sollen diese pauschal formulierten nichts sagenden Wörter bedeuten? Sind sie nicht ein oberflächliches Mittel der Kategorisierung, ja Diskriminierung einer Person, deren tatsächliche Werte und deren Seele mit Daten nicht greifbar sind, deren Individualität in ein Register gepresst und gnadenlos zerstört wird? An welch banale Floskeln klammert man sich denn da eigentlich und macht es sich so verdammt einfach, über Menschen irgendwelche völlig wertlosen Aussagen zu treffen!
Es kam der Tag, an dem Jonahans Chef die gesamte Belegschaft zusammenrief. Er verkündete, dass er seine Firma schließen werde, fügte aber gleich beruhigend hinzu, dass alle Angestellten von einem größeren Unternehmen in der Stadt übernommen, und zu gegebener Zeit informiert würden, um eine reibungslose Eingliederung in die neue Arbeitssituation zu vollziehen.
Es gab ein Betriebsfest. Jonahan überlegte lange, ob er hingehen sollte oder besser doch nicht. Er entschloss sich dann aber spontan, trotz gleichgültiger Stimmungslage, der Einladung zu folgen. Die neuen Kollegen wurden ihm vorgestellt. Sie begrüßten ihn mit Handschlag, nannten ihre Namen, verteilten ein paar Höflichkeiten, auch einige scherzende Worte, lachten. Jonahan hatte ihre Namen im nächsten Augenblick wieder vergessen. Die gespielte Ungezwungenheit und verkrampfte Vertrautheit täuschten ihn nicht über das Fremdsein hinweg, das er empfand. Dann sah er Anja.
Anja stand auf der anderen Seite des Party-Raumes. Sie war von großer, vollschlanker Statur. Ihr braun glänzendes glattes Haar reichte ihr bis zur Hüfte. Zwei funkelnde Spangen hielten es aus ihrem breiten, sanft gerundeten Gesicht. Sie war keine Schönheit, aber überaus apart, makellos gepflegt und tadellos gekleidet. Sie machte auf Jonahan einen ruhigen und gelassenen Eindruck, wirkte aber etwas gelangweilt. Mit ihren schlanken Fingern umfasste sie ein Weinglas, aus dem sie kaum getrunken hatte. Jonahan durchquerte langsam den Raum und steuerte auf sie zu. Sie blickte ihn mit ihren großen runden braunen Augen offen an. Sein Blick fiel auf ihre halbkreisförmigen Brauen, die in perfekter Bogenlinie ihre Augen überfingen, dann auf die lange helle Bahn ihrer Nase, die dicht über ihren breiten Lippen endete. Jonahan fielen nicht die passenden Worte ein, mit denen er sie hätte ansprechen können und so fragte er, einfach ohne weiter nachzudenken: „Was machen sie denn hier?“ Anja wirkte im ersten Augenblick verblüfft, schien seine Frage jedoch richtig erfasst zu haben, meinte, sie wäre ganz zufällig auf dieses Fest geraten, ihre Firma hätte entfernt auch mit der Tabakbranche zu tun, so sie von der Übernahme erfahren und gerade nichts besseres vorgehabt hätte, ansonsten, wie wohl auch er, sich an diesem Ort nicht wohl fühlen würde. Sie verließen gemeinsam die Feier.
Anja war doch ganz anders, als Jonahan sie am Abend eingeschätzt hatte. In ihrer Küche, beim Frühstück, war seine Stimmung niedergeschlagen. Wie kleinlich von ihr, nur zwei Tassen Kaffee aufzusetzen. Er war es gewohnt, mindestens vier zu trinken; und dann die spärlichen Scheiben Brot, die sie auftrug! Wie unwillig sie guckte, als er mit Schwung die Kaffeetasse bis zum Rand mit Milch auffüllte. Überhaupt, die Milch holte sie erst, als er darum bat und die Frage nach Zucker wiederholte er mehrmals. Er dachte an die Zeit zurück, als seine Eltern zuhause Gäste bewirteten. Seine Mutter hatte großzügig immer mehr aufgetischt, als verzehrbar war, hatte ihren Besuchern jeden Wunsch von den Augen abgelesen und keine Mühe gescheut, ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Nur widerwillig und mit einem Ausdruck des Erstaunens setzte Anja erneut Kaffee auf. Jonahan beobachtete, wie exakt sie mit dem Meßlöffel das Kaffeepulver in den Filter schüttete – nicht gehäuft, sondern sorgfältig abgestrichen. Er bemerkte die kleinen Wassertropfen neben der Maschine, die sie gnadenlos aufputzte und hin und her wischte, nur wegen der wenigen Tröpfchen das Wischtuch unter den laufenden Wasserhahn hielt, auswrang, spannte, einschlug und zum Trocknen aufhing. Sie kehrte ihm während der ganzen Zeit den Rücken zu, ohne ein Wort zu sagen. Ihre banale Geschäftigkeit ging Jonahan auf die Nerven. Sie und ihre Küche wirkten steril und poliert. Ob sie mit Desinfektionsmitteln wusch? Jonahan war ernüchtert. Hatte er zuviel von Anja erwartet? Doch einen Augenblick später war er wieder fasziniert. Ihr Haar war so lang, so glänzend, so makellos glatt und ihre Bewegungen so rund und geschmeidig. Ihr Becken war leicht nach vorne gekippt und ihre Lendenwirbel etwas steif, wodurch ein Knick in ihrer sonst so aufrechten Haltung entstand. Die Enden ihres Haares verdeckten diesen Makel genau. Jonahan hatte stets das Bedürfnis, seinen Hand in diesen Knick, genau unter die Haarspitzen zu legen und ihn glatt zu streichen. Er stand auf, steckte seine Hände in die Hosentaschen und sah aus dem Fenster. Es war Zeit, zur Arbeit aufzubrechen. Nun ja, vielleicht passten sie ja doch irgendwie zusammen, immerhin besser, als so ganz alleine zu sein. Sie verließen Anjas Wohnung. Schweigend stapften sie über einigen Bauschutt zur Busstation. Jonahan fröstelte. Anja war in einen dicken Mantel und wollenen Schal gehüllt. Als der Bus kam, trennten sie sich mit einem flüchtigen Kuss. Ich rufe an, rief Jonahan Anja nach, bevor sie im Bus verschwand. Er hatte beschlossen, zu Fuß zu gehen, betrat das nächste Stehcafé, sog den Geruch von frisch gemahlenen Kaffeebohnen und den warmen würzigen Tabakrauch ein.
In den folgenden Wochen verbrachte Jonahan viel von seiner freien Zeit mit Anja und sie war es, die ihn von den zahlreichen Fortbildungen und den Schwierigkeiten an seinem neuen Arbeitsplatz ablenkte und ihm mit ihrem klaren ruhigen Verstand half, diesen so entscheidenden Wandel in seinem Leben mit Gelassenheit anzugehen.
Kapitel V
In Jonahans neuem Betrieb wurde die gesamte Buchungsabteilung über einen zentralen Rechner gesteuert, so dass ihm und seinen Mitarbeitern nur noch eine Daten eingebende Funktion zugeteilt war. Jonahan bemerkte bald, dass zwei seiner Kollegen Zahlen verfälschten und immer dort betrügerisch ihren Vorteil nutzen, wo das System ihnen noch Spielraum gab. Jonahans Gefühl für Korrektheit und Ehrlichkeit widerstrebten diese Praktiken, es widerstrebte ihm genauso, diese öffentlich aufzudecken, tat es aber schließlich doch, verbunden mit dem Plan einer totalen Neuorganisation des Buchungswesens. Mit leidenschaftlichem Engagement unterbreitete er diesen Plan dem Leiter der Abteilung. Dieser ging, beeindruckt von der Korrektheit und Gewissenhaftigkeit, auch von den mathematischen und logistischen Fähigkeiten des neuen Mitarbeiters und insbesondere aufgrund der von ihm errechneten Einsparungen, auf Jonahans Pläne erst einmal ein, obwohl er sie im einzelnen noch gar nicht geprüft hatte. Jonahan stürzte sich mit einer unruhigen Besessenheit in seine selbst auferlegten Aufgaben. Die angestrebte Reorganisation erforderte auch die Fortführung seiner Arbeit nach Dienstschluss. Jonahan nahm stapelweise Akten und Unterlagen mit nach Hause, gab sich der Illusion hin, die Arbeit hinter seinem Rechner allein bewältigen zu können. Er hätte sich eigentlich denken müssen, dass die Stunden eines Tages nie ausreichen würden, um nach seiner Methode auch nur einen Bruchteil der Firmendaten zu erfassen und zu koordinieren. Nach kurzer Zeit schon ging er gar nicht mehr ins Büro, sondern blieb zu Hause hinter seinem Schreibtisch, dem gleichen Tisch, an dem früher sein Vater saß. Als Kind hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als auch einmal dort zu sitzen und „wichtige Geschäfte“ zu erledigen. Bis spät in die Nacht grübelte Jonahan über „seinen Akten“. Eine helle Tischlampe spendete das nötige Licht, während das übrige Zimmer im Dunkeln versank. Anja war manchmal da, doch Jonahan beachtete sie kaum noch. Sie saß auf dem Stuhl nahe am Fenster, las ein Buch oder schaute Jonahan lange an und wartete auf den Moment wo er von seiner Arbeit aufschaute und ihren Blick suchte. „Was denkst du?“ fragte sie dann. „Weiß nicht“, sagte Jonahan. Sobald er versuchte, daran zu denken, an was er gerade dachte, entschwanden ihm die Gedanken oder waren nicht formulierbar, so wie ein Traum, der nach dem Erwachen nicht mehr zu erzählen ist.
Jonahan schaute wieder auf seine Kolumnen von exakt untereinander geschriebenen Zahlen, seine Litaneien. Er hatte den Rechner längst beiseite geschoben, schrieb wieder mit der Hand. Er sah die Tinte aus seinem Stift fließen, sah sie unendliche Zeichen malen. Sie fügten sich zu Ergebnissen zusammen, wurden mit zwei untereinander gezogenen Linien abgeschlossen, um sich dann gleich wieder neu zu gruppieren, in anderen Zusammenhängen aufzutauchen. Sie summierten sich in einer Komplexität, in die Jonahan tief eindrang, doch nicht tief genug eindringen konnte, um das gesamte Gefüge zu ergründen. Er gefiel sich, die Zahlen noch präziser, noch korrekter, noch feiner im Strich zu setzen, seinen Stift zu beobachten, wie er steile Formen in einer langen Kette auf dem weißen beleuchteten Papier bildete. Begeistert von dem Bild der beschrifteten Seiten, kümmerte ihn das Rechenergebnis nicht mehr – es stimmte, denn Jonahan verrechnete sich nie.
Die Firma hatte ihm gekündigt, aber er nahm es nicht war. Er hörte auch Anja nicht zu, als sie sagte, sie ginge jetzt und würde nicht zurückkommen. Ihre Einwände waren in seiner Welt irgendwo verloren gegangen. Er redete sich ein, dass er wohl durch seine neue Aufgabengebiete für sie uninteressant geworden war und dem entsprechend hatte sie sich abgewendet, ihn womöglich längst vergessen. Wer war sie eigentlich? Ein Engel oder ein vollkommener Mensch? Eine „Lebensschauspielerin“, die sogar Fehler vorspielte, um ihm gegenüber nicht perfekt oder gar unmenschlich zu erscheinen? Gehörte sie der Welt an, in der er keinen Platz fand, als Restposten der Vergangenheit?
Eines Abends spürte Jonahan ein taubes Gefühl in seinen Fingerkuppen. „Eine vorübergehende Verspannung“, dachte er, stand auf, ging ins Bad, hielt die Hände unter fließendes Wasser, trocknete sie wieder, rieb die Finger noch einmal kräftig, schaute flüchtig in den Spiegel, ohne sich wirklich zu sehen.
Das Bad lag in der ersten Etage des Hauses; es wurde damals von hank und seinem Vater nachträglich eingebaut. Als Jonahan dort zum ersten Mal gebadet wurde, flößten ihm die glatten hohen Wannenwände und das viele Wasser, das über seinem Kopf zusammenzuschlagen drohte, Angst ein. Er geriet in Panik, als der Stöpsel herausgezogen, und das Wasser mit einem schlürfenden Geräusch kreisend vom Abfluss eingesaugt wurde, glaubte, von diesem Sog ergriffen und mit in die düstere Tiefe gerissen zu werden. Jonahan konnte auch später kein Bad genießen. Es war für ihn reinigende Pflicht, aber er vermied es, die Wanne mit Wasser ganz voll laufen zu lassen. Zudem quälte ihn oft der Gedanke, durch steigendes Wasser in einem geschlossenen Raum ungehört zu ertrinken. Im Fernsehen hatte er mal einen Bericht gesehen, in dem Höhlenforscher durch einen plötzlichen Wassereinbruch zu Tode gekommen waren, auch blieben ihm die tragischen Opfer einer Kellerflutung im Gedächtnis. Er malte sich die qualvollen letzten Minuten dieser Menschen aus, ihre Verzweiflung, ihre Todesangst, die Unentrinnbarkeit.
Jonahan begab sich zur Ruhe, wollte den Abend und seine beklemmenden Gedanken als einen schlechten Traum im Schlaf begraben. Die Taubheit seiner Finger hatte auch am nächsten Morgen nicht nachgelassen und begleitete ihn wie eine düstere Mahnung. Er unternahm einen Gang in die Stadt, fand sich schließlich auf der Freitreppe des Museums wieder, stieg die hohen Stufen hinauf, ging durch die halboffene Eingangspforte und durchmaß die Bildräume mit raschen Schritten, ohne vor den Gemälden zu verweilen oder sie auch nur flüchtig zu betrachten. Durchgänge eröffneten ihm Blicke in die vor ihm liegenden Hallen. Plötzlich fiel ihm von weit her eine leuchtend gelbe Farbe in die Augen, die ihn magisch anzog. Das Bild, das er über eine so große Entfernung hin wahrgenommen hatte, erfüllte ihn mit Wärme. Ihm war, als wenn ein breiter Sonnenstrahlsein Herz durchflutete und seine Seele in die Höhe hob. Er stand eine Weile einfach nur da, doch aus Angst, dass der Zauber im nächsten Moment verfliegen könnte, wandte er sich ab, versuchte, seine Empfindung dem Gedächtnis zu übergeben. Jonahan machte sich nun auf den Heimweg. Sein morgentliches Unbehagen war nicht verflogen, doch erschien es ihm erträglicher. Er wollte sein Leben fortführen, ging direkt nach Hause, als wenn ihn dort eine neue Aufgabe erwarten würde. Als er den dunklen Hausflur betrat, seinen Mantel und seinen Schal ablegte, in sein Schreibzimmer ging und gar nicht wusste, was er als nächstes anfangen sollte, erfasste ihn erneut Verzweiflung. Die Wirkung des Gemäldes war bis auf einen schwachen Nachhall verflogen. Er nahm irgendein Buch aus dem Regal. Der dunkelrote Ledereinband gefiel ihm, es war angenehm, ihn in Händen zu halten. Jonahan setzte sich, schlug die Titelseite auf. Ohne zu lesen blätterte er die Seiten um, folgte mit seinem Blick den Rastern, die von den schwarzen Zeilen und den weißen Zwischenräumen gebildet wurden. Wie durch ein Labyrinth durchlief er die ständig abknickenden Streifen, mal senkrecht, mal waagerecht. Er strengte sich dabei so an, dass die Muster vor seinen Augen allmählich verschwammen. Schließlich griff er zu einer Nagelschere und begann, die leeren Stellen aus dem Text zu schneiden, erst nur wenige, dann Seite für Seite, in immer größerem Umfang. Es machte ihm Spaß, in den durchlöcherten Seiten zu lesen, den durch übereinander liegende Wortfragmente ergänzten Text neu zu sehen, seine ganze Unsinnigkeit zu erkennen. Nach Stunden, die er mit diesem Buch zugebracht hatte, lag vor ihm nur noch ein Schnipselwerk. Schließlich fing er an, die Seitenreste zu zerreißen, die gebundenen Stellen vom Einband zu lösen um sie gebündelt, und dann Stück für Stück zu zerfetzen. Zuletzt packte er alle Reste in eine Plastiktüte, legte den ledernen Einband dazu, hielt „das Buch“ vor seinen Augen hoch, stand dann auf und quetschte es in eine Schublade, die mit zahlreichen Papieren vollgestopft war. Jonahan fühlte sich wie sein Buch.
Jonahan verließ das Haus immer seltener, ab und zu ging er zum Essen in ein nahes Restaurant und trank starken Kaffee. Er verstand die gesellschaftlichen Rituale seiner Mitmenschen nicht mehr. Er hielt sie für bedeutungslos und überflüssig. Am Nebentisch sprach man von einem „Dammbruch“, „Häuser und Menschen sind weggespült worden“. „Wir brauchen kein Keller mehr“, dachte Jonahan, „Dammbruch“ – als wenn die Welt aus einem herausgezogen würde.“ Auf dem Rückweg kam er an einem Denkmal vorbei. Wen zeigte es, einen berühmten Dichter, einen Musiker oder einen Kriegsheld? „Helden sehen als Denkmal alle gleich aus. Nichts, was diese Menschen einmal waren, kann so ein steinerner Klotz erfassen, nicht die Sprache, nicht die Töne, nicht das Blut.“ Jonahan mochte solche Menschenbilder nicht. „Wie vermessen, Leben zu versteinern! Selbst Götter stellen sie in Menschengestalt dar, obwohl diese doch einer geistigen Vorstellungswelt entspringen. Götter können nicht abgebildet werden, weil sie nicht sichtbar und nicht von dieser Welt sind.“
Vor dem Haus begegnete Jonahan öfters seiner Nachbarin Drusa. Sie war Balletttänzerin, stets guter Laune, nahm immer zwei Stufen der Haustreppe auf einmal. Trotz ihres zierlichen Körperbaus verbreitete sie eine kraftvolle Energie. Sie trug immer einen viel zu großen grün-gelb gestreiften Pulli, der ihr über einer eng anliegenden Wollhose fast bis zu den Knien reichte. Ihr kurz geschnittenes knallrotes Haar, mit bunten Strähnchen durchsetzt, leuchtete schon von weitem. Ihr schien immer warm zu sein, die Wangen lebhaft gerötet, die hellgrünen Augen glänzend und weit aufgerissen. Einmal erzählte sie Jonahan begeistert, dass nach ihrer Vorstellung eine Zuschauerin in ihre Garderobe gekommen wäre, sie umarmt und unter Tränen gesagt hätte, dass sie durch ihren Tanz neuen Lebensmut bekommen hätte. „Dafür lohnt es sich zu leben“, meinte Drusa stolz, fügte aber dann leise hinzu: „Und doch wird mein Leben verfliegen, weil ich es gebe.“ Jonahan verstand ihre Worte nicht so ganz, aber er fragte nicht weiter nach.
Drusa war irgendwann weg. Jonahan fiel eines Tages ein Transporter vor dem Nachbarhaus auf. Das Auto gehörte Drusas Hausbesitzer, der Lehrer an einer Oberschule war. Jonahan konnte sich seinen Namen nie merken, er mochte diesen Menschen auch gar nicht, in allem was er sagte, schwang ein belehrender Ton mit, als gelte nur seine Meinung. Er gab sich flott, tat immer so, als hätte er jede Situation locker im Griff, doch zu seinem übergewichtigen Körper, den verkniffenen Lippen und der dicken Brille, die jeden offenen Blick versperrte, mochte sein Gehabe so gar nicht passen. „Die Wohnung müsse nun endlich geräumt werden, ein halbes Jahr Mietrückstand, seit Wochen keine Nachricht von Drusa, was für ein finanzieller Verlust, und wie sie die Zimmer hinterlassen hat, alle Möbel reif für den Sperrmüll, nichts Brauchbares, nur Schmutz, was für ein Ärger mit solch einer Person!“ lamentierte er laut auf der Straße. Jonahan erbat sich Zutritt zu ihrer Wohnung. Sie hatte doch sicher auch sehr persönliche Dinge in ihrem Zuhause. Er wollte diese Dinge für Drusa aufbewahren, falls sie doch noch zurückkehren würde. Der Hausbesitzer hatte nichts dagegen. „Gehen sie nur rein, aber was wollen sie da finden?“ Wirklich, es gab dort so gut wie Nichts, das man „persönlich“ hätte nennen können. Einen abgegriffenen Teddy, eine alte Pappschachtel mit Fotos und eine weitere mit Briefen und Postkarten, ein paar Poster an der Wand mit Tanzszenen, einige zerlesene Zeitschriften, kleine Schminktöpfchen mit unappetitlichen Resten, ausgetretene Schuhe und abgetragene Kleidungsstücke, eine zerschlissene Stofftasche mit Applikationen, ein halb fertiger Strickpulli, an dem die Nadeln heraus stachen. Sonst war da nichts zu finden. Das Wirkliche an Drusa lag wohl nur in ihrer Person, in ihrer lebendigen Erscheinung, in ihrem Enthusiasmus und ihrer Liebe für die Arbeit. Mit ihr war aller Zauber gegangen, ihr Geist war verflogen. Was blieb, war Sperrmüll. Jonahan nahm die beiden Schachteln mit Fotos und Briefen an sich und beschloss, sie unbesehen aufzubewahren.
Jonahan nahm sich vor, Drusa zu suchen. Nur wo? An wen sollte er sich wenden? Wie hieß sie doch gleich mit Nachnahmen? Und wo arbeitete sie eigentlich? Er wusste auf seine Fragen keine Antwort. Er hatte sich mit Drusa nie länger unterhalten und auch nie eine ihrer Vorstellungen besucht. Jonahan schrieb eine Reihe von Briefen, an die Krankenhäuser, die Polizei, die Theater, an möglicherweise zuständige Behörden. Er erhielt keine Antwort. Er wartete. Vielleicht hatten die Adressaten durch einen unglücklichen Umstand seine Schreiben nicht erhalten oder vielleicht waren die Antworten verloren gegangen. Jonahan wiederholte seine Anfragen, aber sie blieben ohne Ausnahme unbeantwortet. In ihm erwachte Zorn über die Gleichgültigkeit, mit der hier über ein menschliches Schicksal hinweggegangen wurde, übe die Arroganz, mit der man seine Fragen ignorierte, ihm selbst nicht einmal ein einziges Wort würdigte. Ansonsten saß er wieder an seinem Schreibtisch und tat „seine Arbeit“.
Kapitel VI
Durch die kleine Erbschaft der Mutter konnte Jonahan, bei sparsamer Lebensführung, auch als Arbeitsloser sein Leben wie gewohnt fortführen. Existenzsorgen waren vordergründig nicht gegeben. Die Untervermietung der Räume schloss er aus. Die Vorstellung, in seinem Haus mit anderen Menschen leben zu müssen, war ihm unerträglich. Und dennoch malte er sich seine Armut aus, fürchtete den Verlust der Selbstbestimmung und der eigenen Würde. Er steigerte sich in den Gedanken hinein, sein Tun vor anderen rechtfertigen und verteidigen zu müssen. Er sah sich deutlich als Verlierer gegenüber einer Gesellschaft, deren Gewohnheiten ihm zu einem großen Teil unverständlich waren und die er ablehnte. Er fürchtete auch die Behörden, deren Vertreter in ihrer Amtsausübung nicht als Menschen handelten, seine Art des Lebens und seine Tätigkeit nicht respektierten, ihm womöglich seinen Besitz rauben könnten.
So geht es nicht weiter.
Doch, es geht weiter.
Da ist etwas, das dich anstößt,
unermüdlich,
ob du willst oder nicht.
Es wird gehen.
Langsam,
langsam öffnen sich die schwer hängenden Lider.
Und die Augen werden die Blume sehen,
das satte Rot einer Hibiskusblüte
nach einem kühlen Regen.
Jonahan schlug ein Buch auf und las: „Der Tod ist Höhepunkt und Ziel des Lebens“. Er schlug das Buch wieder zu und dachte: „Aber nur für die Sterbenden, nicht für die, die am Leben bleiben.“ Er suchte nach dem Sinn des Gelesenen in seinen Gedanken. Aber er fand nur längst vergessene Bilder, die vor seinem inneren Auge plötzlich auftauchten. Er erinnerte sich an die letzten Worte seines jung verstorbenen Vaters, der sich gegen seinen frühen Tod mit aller Energie gewehrt hatte: „Ich ergebe mich dem Maß, das Gott für mich bestimmt hat.“
Jonahans Erinnerungen an den Vater waren vage. Er hatte in seinem Zimmer einen Getränkeschrank mit gespiegelter Rückwand besessen. Wenn man die Tür öffnete, kam einem ein würziges Duftgemisch entgegen. Der Blick fiel auf kostbare alte Flaschen mit goldenen Etiketten, auf farbige Kristallgläser, auf einen Korkenzieher mit schwerem metallenem Griff, der teilweise mit Grünspan überzogen war, auf kleine Elfenbeinschnitzereien, Bacchus und sein Gefolge darstellend, ein Relief von verschlungenen Menschen, Tieren und Arabesken, daneben, bemalte Zinnsoldaten, bunte Spielkarten, eingerollte Nachdrucke von Kupferstichen, auch Firmenpräsente, einen silbernen Zigarrenanzünder und verschiedenförmige Aschenbecher, einen achteckigen aus Marmor, einen aus dunkelblauem Glas und ein kugelrunder, bei dem man in der Mitte auf einen Knopf drücken musste, worauf die Asche unter kreisender Bewegung von Metallscheiben im Innern des Behälters verschwand.
Das Zimmer wurde nach dem Tod des Vaters von der Mutter verschlossen gehalten. Sie lüftete und reinigte es regelmäßig und bürstete die vielen Anzüge. Man hätte meinen können, sie erwartete ihren Gatten bald von einer langen Reise zurück. Sie hatte nie ein Wort über seinen Tod verloren, seinen Namen nie wieder erwähnt. Von der Beerdigung blieb Jonahan die Zeremonie in der Totenkapelle im Gedächtnis. Die dunkel gekleideten Verwandten saßen dicht gedrängt, manche schluchzten. Seine Mutter hatte den Kopf gesenkt und hielt in ihrem Schoß ein Taschentuch ganz fest umklammert. Der Sarg stand vorne am Altar. Es war kalt, und überall roch es nach vermodertem Gras. Ihm fiel der lange Weg zum Grab wieder ein, der Fußmarsch kam ihm unendlich vor. Er hatte dann einen Blick in das Grab getan, konnte aber den tief eingelassenen Sarg nicht sehen, sondern nur das Erdloch und hatte sich gefragt, was das sei, und was das mit seinem Vater zu tun hatte.
Jonahan dachte an seine Blinddarmentzündung zurück. In der Nacht war ihm übel geworden und ihn plagten heftige Bauchschmerzen. Die Eltern riefen den Arzt, der eine Einlieferung ins Krankenhaus anordnete. Am frühen Morgen sah er sich mit einem kleinen Koffer an der Hand seiner Mutter. Sie hatte ihm zum Trost einen kleinen Stoffhasen geschenkt. Jonahan trug einen wollenen, grün-schwarz karierten Mantel; am Kragen war ein Schal angenäht. Er konnte den Mantel nicht leiden. Das Ding engte ihn ein, war an den Achseln zu eng geschnitten, so dass er die Arme kaum heben konnte; der Schal kratzte. Er erinnerte sich an den Moment, als man ihn auf einer großen Bahre in den Operationssaal schob. Sein Bauch wurde mit einer kalten Flüssigkeit eingerieben. Er spürte die Narkosemaske auf seiner Nase und nahm sich ganz fest vor, wach zu bleiben. Aus Angst vor dem möglichen Schmerz gab er seinen Vorsatz aber schnell auf und versank in bunten Träumen. Er sah eine sich schnell drehende Radscheibe, auf der viele kleine Zahnräder ineinander griffen. Er hörte Töne, konnte sie aber nicht als Musik bestimmen, sah sich dann selbst auf einem der Rädchen sitzen. „Du musst versuchen, dich auf der Scheibe zu halten, wenn du herunterfällst, bis du tot.“ Jonahan fiel herunter.
Als er aufwachte, konnte er die Augen noch gar nicht richtig öffnen. Eine Schwester hatte ihm die Bettdecke weggezogen und ihn auf den Rücken gedreht. „Wie lange er denn eigentlich noch schlafen wolle“, hatte sie ihn in einem scharfen Ton angeherrscht. Die Mutter brachte ihm frische Milch und saß, solange es die damals nur kurze Besuchszeit erlaubte, an seinem Bett. Als sie gegangen war, nahm die Schwester die Milch weg. „Niemand dürfe bei ihr eine Sonderstellung haben, er hätte wie alle anderen Tee zu trinken, und wenn er sich bei seiner Mutter beschweren würde, könne er was erleben.“ Jonahan stieß Flüche gegen diese Schwester aus, würde sie dieses Krankenzimmer doch nie wieder betreten! Er hörte das Gurren der Tauben draußen vor dem Fenster, deutete sie als Vögel des Himmels und des Todes, fürchtete sich, nahm seinen Stoffhasen fest in den Arm und schloss die Augen. Die Operationswunde eiterte, Jonahan konnte sein rechtes Bein nur unter Schmerzen bewegen und hatte täglich Angst vor dem Moment, wenn das große Mullpflaster gewechselt werden musste. Der Anblick der nässenden Körpernaht und der Geruch des Eiters prägten sich ihm für immer ein.
Der Gedanke an den Tod hatten Jonahan von Geburt an begleitet. Er wuchs in einem Trauerhaus auf, denn nur kurz nachdem er geboren wurde, starb seine Großmutter. Er meinte sich an diesen Tag genau erinnern zu können: Ein großes Kastenbett, hoch aufgetürmt weiße Kissen, aus denen nur ein kleiner runder Kopf herausschaute. Sein Vater trug ihn auf dem Arm, doch er quengelte und versuchte, sich von dem Griff zu befreien. In dem Zimmer lag eine schwere, bedrückende Stimmung, deren Ernst den ganzen Raum ausfüllte.
Oft, wenn Jonahan nachts aus dem Schlaf erwachte, glaubte er ein Atmen zu hören, mitunter auch viele Stimmen. Sein Herz fing daraufhin stark zu schlagen an und in seinem Gehör stellte sich ein Rauschen ein. Er sah sich von Schatten umringt, knipste dann immer schnell das Licht an, aber der Ausschnitt des Sichtbaren verkleinerte sich kreisförmig und erst kurz bevor es ganz schwarz wurde, kehrte das Zimmer in sein Blickfeld zurück. Manchmal fühlte er sich wie an einem Fallschirm; er wollte den Boden erreichen, zog und wand sich, doch der Aufwind war ungnädig und zog ihn in die Höhe. Er begann sich spiralförmig aus dem Kopf nach oben zu drehen. Er wollte zurück, zurück in seinen Körper, herunter, bloß herunter! Dann wiederum sah er grelles Licht, runder und größer als ein Blitz, es füllte sein ganzes Blickfeld aus, brach dann auf in schwarze Spalten, die wie Eisschollen auseinander drifteten und klaffende Ritzen tiefen Wassers zwischen sich zurückließen, und Jonahans Kopf war zerschlagen wie nach einer schweren Explosion. Er hatte in solchen Zuständen oft nach seinen Eltern geschrien, die ihn dann einen dummen Jungen und Angsthasen geschimpft hatten. Irgendwann hatte er aufgehört, zu schreien oder darüber zu reden. Er beobachtete sich selbst und rechnete mit dem Tod. Aber der Tod kam nicht, die Stimmen verschwanden, mal mehr, mal weniger, und er hatte sich angewöhnt, nur bei Licht zu schlafen.
Auf Leben und Tod
Meine Erinnerung geht zurück zu meiner Geburt.
Sie war kalt, glasklar und hellblau
und ein Ringen um Luft,
ein Ringen um Atem.
Dann war es dunkel.
Meine Erinnerung nach der Geburt
ist die Erinnerung an den Tod.
Ich fühle unendlichen Ernst,
möchte schreien, doch bringe keinen Ton hervor.
Der Schrei der Geburt ist ein Luft holen,
doch das Bild des Todes lässt mich verstummen
vor der Zeit der Sprache.
Jonahan betrachtete ab und zu das Portraitfoto seines Vaters und versuchte zu ergründen, was für ein Mensch er gewesen war. Wie hatte er gedacht, was hatte er gefühlt, wie hatte er zu seiner Frau und seinem Sohn gestanden? Jonahan fiel anhand des Fotos nichts dazu ein, die Aufnahme gab so gar keinen Aufschluss. Die Gesichtszüge seines Vaters waren glatt und jugendlich, sein Blick in die Ferne gerichtet, sein Haar sorgsam nach hinten gekämmt. Sein Tod war endgültig und das Abbild als Ersatz seiner Anwesenheit völlig bedeutungslos.
Mehr und mehr spürte Jonahan, dass neben seinen Fingerkuppen auch seine Fußsohlen taub wurden, sein Nacken und sein Kopf dumpf schmerzten, ein Prickeln in den Händen langsam die Arme hoch kroch, sich dann auch über seinen ganzen Brustkorb legte, ihm das Atmen erschwerte und ihn stark husten ließ. Er hatte von Tag zu Tag mehr Mühe, sich hinter seinem Schreibtisch zu erheben und zum Fenster zu bewegen, den Vorhang beiseite zu schieben, für einen Augenblick das Fenster zu öffnen und Luft zu schöpfen. Er musste sich dann sofort auf seinen Stuhl niederlassen, da ihm schwindlig wurde. Oft steckte er sich Watte in die Ohren, um die Welt, die mit ihren Geräuschen in ihn drang, abzustellen. Aber die Geräusche drangen immer wieder durch.
„Für jede Sekunde der Stille muss ich dankbar sein und die anderen Momente erdulden, ignorieren, mich tot stellen, muss mich der Momente erinnern, diejenigen wachrufen, wo ich in Stille ertrinken, in Ruhe versinken konnte. Die Stille ist die Unendlichkeit des Gehörs wie ein wolkenloser Himmel die Unendlichkeit des Sehens. Unendlichkeit als Mittel gegen die Verzweiflung, Friedenstifter gegen den permanenten Schrei, Alternative zum großen Nein!“
In Jonahan klang die Vergangenheit nach, kurze Momente, Assoziationen, ein Spaziergang durch die Stadt, er hob auf der vom Schneematsch verschmutzten Straße einen Spielzeugteddy auf, den hatte wohl ein Kind verloren. Er starrte dieses verdreckte Plüschtier an und malte sich das Kind aus, das womöglich über diesen Verlust weinte. Er dachte an Drusa und sein eigenes Spielzeug, das ihm längst abhanden gekommen war. Er dachte an den Engel, von dem ihm seine Mutter erzählt hatte, von seinen großen Schwingen, die sich bei Gefahr mit dichten Federn um ihn legen, und ihn unverwundbar machen würden. Jonahan hatte sich die Flügel dieses Engels, deren weiche Federn im Licht schimmerten und deren Farben von Alt-Rosa in helles golddurchwirktes Grau wechselten, bei jedem Sturz immer ganz fest vorgestellt, damit sie ihn ganz sanft auf den Boden betteten.
Jonahan dachte an Anja. Er sah den Lichtstrahl auf Anjas braunen, schimmernden Haaren, sah deren Glanz, der zu ihm herüber getragen wurde. Er betrachtete seine linke Hand, die vor ihm auf den Papieren lag; sie lag genau so, wie Anjas Hand immer gelegen hatte. Er fühlte Anjas Hand in seiner. Seine Hand war Anjas Hand. Sie war bei ihm. Er legte die rechte Hand auf die linke, doch mit dem Versuch, sie festhalten zu wollen, verschwand die zauberhafte Illusion. Manchmal noch fand er Anja ganz plötzlich in seinen Gesten wieder und sah ihre Augen, wenn er von seinen Schriften aufblickte.
Meine Augen sind Tränen
in einem niemals endenden Strom,
der mich zum Meer führt
wo das Licht und das Blau
meinem Herzen Stärke geben.
„Schade, dass dein Leben so verlaufen ist“, hatte einer seiner damaligen Kollegen ihm gegenüber geäußert. Jonahan sah diesen Menschen noch genau vor sich und ihn ergriff Zorn: Gar nicht schade – es war sein Leben, es war sein würdiges Leben. Nichts in seinem Leben war schade, alles war so, wie es gekommen war, und er war stolz darauf, stolz auf sich und sein Leben. Sein Leben hatte genauso viel Wert wie jedes andere!
Wie geht es dir?
Wie soll es mir schon gehen?
Was sagst Du?
Was soll ich schon sagen?
Was machst Du?
Was soll ich schon tun?
Wohin gehst du?
Wohin soll ich schon gehen?
Warum ist das so?
Warum ist was so?
Was soll denn schon sein?
Und sonst?
Jonahan fragte sich, was von seinem Leben noch übrig war. Er schloss die Tür ab und zog die Vorhänge zu, setzte sich auf seinen Stuhl und starrte auf das Muster des Teppichs, schloss dann die Augen und riss unter den Lidern die Pupillen ganz weit auf: Vier Flugzeuge auf regennassem Rollfeld, dunkelgrauer, wolkenverhangener Himmel, die nassen Tragflächen glänzten in der an manchen Stellen durchbrechenden Sonne. Wind, der Platz wie leergefegt. Colette, ihr Gesicht wie von einem Bildhauer aus Stein gemeißelt, über ihren Schultern eine helle Strickjacke, zarter Goldschmuck an ihren schlanken Händen, heller Nagellack, der diamanten schimmert. „Es war gut, dich kennen gelernt zu haben“ – die schöne Postkarte von ihr, mit einem bunten Drachen. Dann nur noch graue Wände mit gold-roten, ganz feinen Adern, die sich gegeneinander verschieben und kleine weiße Kugeln, die wie Sandkörner herunter rollen und irgendwo unten im Dunkeln verschwinden.
Einmal traf Jonahan Anja in der Stadt. Sie sagte, sie hätte geheiratet. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Biederes bekommen und sie begann jeden Satz mit dem Namen ihres Gatten. Sie war in Eile. Jonahan fühlte sich so hilflos wortlos, da war so viel Unausgesprochenes zwischen ihnen. Er war schockiert über die Normalität, mit der Anja ihm begegnete. Was hatte er von ihr eigentlich erwartet? Was hatte er ihr damals eigentlich gegeben? Er hätte sie gerne umarmt aber er sah die Unkonzentriertheit in ihren Augen, die Abweisung in ihrem Körper. Er wagte es nicht, sie anzufassen. Er fragte sich später, ob sie „Auf Wiedersehen“ gesagt hatte, aber der Abschied war in seiner Erinnerung nicht zu finden. Warum, verdammt noch mal, warum wusste er nicht mehr, wie sie sich verabschiedet hatten? Was war geblieben? Ein fades „Hallo, wie geht es dir?“ War das wirklich Anja gewesen? Sie kam ihm anders vor als früher, eigentlich völlig fremd.
Das Herz ist zum Tode verurteilt,
und die letzte Hoffnung auf Gnade,
wie lange wird sie bestehen?
Mein Traum ist ein Garten,
wo das Sonnenlicht spielt,
uns wärmt und ausruhen lässt.
Ich möchte mich schlafen legen mit diesem Traum
und den Morgen vergessen.
Die Sonne und der Mond,
und die Steine der Verzweiflung,
wo sind meine Blumen,
die Formen der Liebe?
Manchmal wollte Jonahan nicht schlafen gehen, um den Beginn des Nächsten Tages nicht zu verpassen und manchmal sehnte er sich nach Schlaf, um das Ende des Tages nicht ertragen zu müssen und er erschrak vor dem Traum, alles sei nur ein Traum gewesen.
„Ich stelle mir vor, mein Kopf ist randvoll mit Schutt, angehäuft mit Steinen, gebröckeltem Mörtel, Glasscherben, Asche, wie nach dem Abriss eines Hauses. Aufräumen erscheint da schwer; wenn man bloß erst einmal angefangen hätte. Aber einen Anfang zu machen bedeutet weiter zu machen. Die Konsequenz wird schmerzlich sein. Irgendwann vielleicht – oder besser doch nicht.
Jonahan schaute aus dem Fenster, blickte auf die Menschen auf der Straße unter ihm. Sie hasteten vorbei, immer entlang der Hauptstraße, den Blick nicht rechts noch links, nur geradeaus oder vor sich hin gerichtet, ohne Abschweifen, ohne Umwenden, als wenn all diese Leute einer fremden oder inneren Instanz verpflichtet seien – kein Innehalten, kein Nachdenken, keine Pause, kein Blick für das Abseits! Jonahan fixierte die Fassaden, die Fenster, die Dächer. Er verband sie in seiner Vorstellung zu einem unregelmäßigen Puzzle: Die Regenrinne des tiefer liegenden Nachbarhauses, der graue Himmel, der vielfach ausgebesserte Straßenbelag mit den zahllosen Kaugummiflecken, Pfützen mit schmutzigem Wasser, durch Frostschäden aufgesprungener Teer, zahllose Zigarettenkippen, die in die Ritzen gequetscht worden waren, ein paar Grasbüschel und Löwenzahn, die es wagten, ganz flach dazwischen zu wachsen, hellgrün und von der Nässe durchtränkt, die gegenüberliegende Mauer, braun, grau, dunkelgrün, mit schwarzen Ritzen, an ihrem Fuß ein kleiner weißer Baum, ein Tropfen, der die Wand herunterkullert. Ein grünes Blatt, nicht nur grün, ein Sonnenstrahl lässt es gold, blau, gelb und schwarz erscheinen. „Was wären wir ohne das Licht?“ Jonahan lauschte auf das Geräusch des einsetzenden Regens, das Drippen der Tropfen auf den triefend nassen Blättern, das leise Sickern der sich formierenden und ablaufenden Rinnsale. Er erinnerte sich an das Geräusch der an den Strand auflaufenden Wellen, an diesen unermüdlichen Rhythmus, an den sanften nassen Sand und den kühlen prickelnden Wind, der über seinen Körper strich. Tief atmete er in die reine feuchte Luft ein, schloss die Augen und ließ sich fortragen. Gestern erst schaute er in das sich ständig wandelnde Blau am abendlichen Horizont. Schauen, nur Schauen! Es füllte die Augen, nährte die Seele, machte den Geist weit – Erstaunen vor so viel Schönheit, die nach wenigen Minuten dunkler und dann zur Nacht wurde.
Jonahan war besorgt über das dichte Efeu, das am Haus hochwuchs, es bewuchs, in das Gemäuer, das allmählich abbröckelte, tief eindrang. Er war besorgt über diese harten Ranken, die bis in seine Zimmer vordrangen, mit Harz und Ungeziefer behaftet, und sogar die Kacheln im Bad sprengten und mit schwarzen klebrigen Flecken übersäten. Er umfasste den runden Knauf am Pfosten des Treppenaufgangs, zog sich mühsam am Geländer hoch. Es war durch gedrechselte Stäbe gegliedert, zwischen die sich mit der Zeit eine dicke Staubschicht gesetzt hatte. Früher hatte er mit einem feuchten Lappen die Stäbe immer sorgfältig abgewischt, jetzt hatte er dazu längst nicht mehr die Kraft.
Fortschreiten, weiter gehen,
weg, von dem was ist,
weg vom Leben.
Der Morgen, jeden Tag wiederholbar.
Wer hat angefangen, einen Tag hinter den anderen zu
Setzen und damit den Weg zum Tod zu beschreiben?
Die Zeit geht nicht, sie ist immer da.
Aber ich bewege mich, oder nicht?
Die Sarani – die große, hoch gepriesene, gefeierte Sängerin. Man sagte, aus Liebeskummer sei sie zur Alkoholikerin geworden und hätte sich ihre Stimme und auch ihre Beine ruiniert. Sie konnte nur in ganz engen Schrittchen gehen, aber meistens sah man sie im Rollstuhl. Wenn Jonahan ihr begegnete, trug sie ein graues Kostüm, darunter eine weiße Rüschenbluse. Ihre streichholzdünnen Beine waren mit Stützverbänden umwickelt und ihre Füße steckten in knöchelhohen braunen Lederschuhen mit Pelzbesatz. Ihre Gesichtshaut war aufgedunsen und viel zu stark gepudert. Sie trug lange falsche Wimpern und eine leicht schief sitzende Perücke mit üppigen braunen Locken. Ihr Blick flackerte, schweifte unstet herum, man kannte sie wütend gestikulierend und ständig schimpfend. Drusa hatte ihr oft geholfen. Sie schob ihren Rollstuhl ins Freie, ging mit ihr im Park spazieren oder für sie einkaufen. Jonahan gesellte sich einmal zu ihnen und riskierte einen direkten Blick in das Gesicht der Sarani. Er versuchte hinter dem Make-up, das sich in ihren Falten trocken abgesetzt hatte, einen menschlichen Zug zu entdecken, eine Regung zu finden, die der Sarani jenseits ihrer plakativen äußeren Erscheinung eigen war, aber da war niemand. Sie redete immer klagend dasselbe, als wenn sie ein Tonband abspulen würde; die Aggression und das Schrille in ihrem Ton steigerte sich in gewissen Abständen um dann wieder zu einem unverständlichen Gemurmel herabzusinken. Eigentlich gehörte sie längst in ein Pflegeheim. Aber nach dort hätte sie ihre Schätze nicht mitnehmen können, die ihr jetzt im Alter Alles bedeuteten. Ihre große Bibliothek, die wertvollen Möbel, ihr kostbares Porzellan und die vielen liebevollen Erinnerungsstücke, die sich während ihrer Karriere so angesammelt hatten und durch die sie sich bestätigt und beruhigt fühlte – all das, was ihre Selbstbestimmtheit und ihren Lebensinhalt ausmachte. Mit dem Verlust ihrer gewohnten Umgebung wäre ihre Persönlichkeit zugrunde gegangen, wäre ihr Leben abhanden gekommen. Eines Tages war die Sarani tot. Niemand kümmerte sich darum. Drusa machte das sehr traurig, aber sie hatte hier nichts zu bestimmen; es tauchten schnell irgendwelche Verwandten auf, die sie zuvor die gesehen hatte. Sie teilten den Nachlass unter sich auf.
Jonahan dachte einmal daran, Anja anzurufen. Er starrte wie gebannt auf das Telefon. Was sollte sie denn von ihm denken, wenn er nach so langer Zeit bei ihr anrief? Sie lebte doch in einer ganz anderen Welt. Wie sinnlos, bei ihr wirklich anzurufen! Vielleicht ruft sie ja irgendwann an? Jonahan glaubte an manchen Tagen tatsächlich, dass Anja anrufen würde, wusste aber in seinem Innern sehr genau, wie absurd seine Hoffnung war. Sein Telefon klingelte nie. Er fragte sich, warum er es überhaupt noch hatte. Er dachte auch einmal daran, Anja zu schreiben. Aber jetzt, wo sie verheiratet war, was hätte sie denn von ihm gedacht? Was hätte er auch schreiben sollen? Was er fühlte? Was fühlte er denn eigentlich? Jonahan saß da und war einfach traurig. Er zeichnete zittrig ein paar Buchstaben und Linien auf das Papier. Das war alles, was er hervorbrachte. Er war allein und er war stumm.
Jonahan entschloss sich irgendwann doch, die wenigen Fotos und Aufzeichnungen von Drusa anzusehen; dabei fand er einen handschriftlichen Text: „Notenpapier mit horizontalen Linien, fünf formieren sich zu einer Straße mit Wegweisern, Wegabschnitten, Halt- und Verbotstafeln und Warnzeichen bei Geschwindigkeitsbeschränkung. Manchmal ist der Verkehr sehr dicht und das Papier wogt von schwarzen Zeichen. Streckenweise ist es still und leer, nur die ein- oder andere Note hat sich verirrt, zu weit vorgewagt oder ist zu weit zurückgeblieben. Die Straßen verlaufen sich in einem anderen Land. Musik – eine Sprache mit besonderem Schriftbild. Das Bild zeigt breit getretene Punkte, kleine Peitschen, Schattenkringel und Striche, Stränge, an denen Punkte ziehen und doppelt gesicherte Stränge, an denen viele miteinander aufgehängt zappeln. Nach vereinbarten Regeln geschrieben, führt eine geheimnisvolle Übereinkunft zwischen Zeichen und Tönen zum Erschallen. Wo wir die Bücher aufschlagen, lesen wir das Schriftbild summend ab und nehmen den Körper zu Hilfe, um den Rhythmus zu erfassen. Aber die Musik bleibt unwirklich als Bild und vergeht in der Zeit, in der sie hörbar erklingt. Die Musik kann auch die Zeichen nicht setzen, wenn sie nicht schon vor einem inneren Ohr erklungen ist. Sie macht einen lebendigen Sprung auf das Blatt, auf dem sie, festgehalten als Zeichen, abstirbt, und sie tut einen tödlichen Sprung vom Papier ins Leben.“
Jonahan war nie in einer Ballettvorstellung gewesen. Er hätte dann ja abends das Haus verlassen und mit dem Bus fahren, unter Umständen auch eine Karte vorbestellen müssen. Sie hätte ihn viel Geld gekostet. Er wäre dort vielen Menschen begegnet, die ihn angestarrt hätten und er hätte auf engstem Raum Stunden mit ihnen verbringen müssen. Die Freude am Zuschauen wäre ihm da sicherlich vergangen. Außerdem hatte er so gar keine Ahnung von Musik und Tanz. Hätte er das Stück überhaupt verstanden? Vielleicht hätte es ihn aufgewühlt oder gar verärgert. Aber Drusa zur Freude wäre es doch gut gewesen, wenn er mal eine ihrer Vorstellungen besucht hätte. Jonahan ärgerte sich über sich selbst.
Jonahan dachte an Marie, die Busfahrerin. Sie hatte eine ziemlich kräftige Statur, schaute ein wenig dumm drein. Aber dieser Eindruck täuschte, sie tat ihre Arbeit souverän. Jonahan betrachtete sie auf seinen Fahrten durch die Stadt des Öfteren von der Seite oder sah sie auch beim Einsteigen eindringlich an. Ihre leicht geknickte Sorgenfalte, die sich tief über ihrer Nasenwurzel eingegraben hatte, hätte Jonahan ihr gerne weggewischt. Sie erwiderte seinen Gruß immer mit kurzem Nicken und einer kleinen Handgeste, blickte aber dann gleich weg, als wenn ihre Fahrgäste sie so gar nichts angehen würden. Auf einer dieser Busfahrten fiel Jonahan ein älterer Herr auf, der eine Reihe vor ihm, auf der gegenüberliegenden Fensterseite Platz genommen hatte und mit ganz geradem Rücken, ohne irgendeine Bewegung, dasaß. Irgendwann stand er mit einer für sein Alter verblüffenden Leichtigkeit auf und ging zum vorderen Ausstieg. Jetzt erst bemerkte Jonahan, dass er einen schwarzen Gehstock mit einem außergewöhnlich schön geschwungenen silbernen Knauf mit sich führte. Sein schwarzer Anzug erinnerte ihn an die Anzüge seines Vaters, die so lange im Schrank gehangen hatten. Der Mann legte seine Hand ganz behutsam auf den Arm von Marie und murmelte ein paar unverständliche, jedoch freundlich klingende Worte. Dann drehte er sich herum und fixierte mit seinen lebhaften hellblauen Augen die Fahrgäste des Busses. „Einen schönen Tag wünsche ich ihnen allen“, sagte er mit einer kräftigen sonoren Stimme. Das gemurmelte „Danke gleichfalls“ der wenigen aufgeschreckten Businsassen mag ihn noch auf der untersten Stufe der Tür erreicht haben. Jonahan wendete seinen Kopf zum Fenster, doch der alte Herr war verschwunden.
Jonahan wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte weder Lust sich zu setzten noch sich hinzulegen noch irgendwo hinzugehen. Er rieb sich mit den Händen immer wieder das Gesicht und wünschte sich, einfach nicht mehr da zu sein. Er ertrug die Zeit nicht, er ertrug sich selbst nicht und die Welt schon gar nicht. Er wusste nur zu gut, dass ihm jede Funktion abhanden gekommen war. Schließlich setzte er sich an seinen Schreibtisch und begann, vermeintlich interessante Zeitungsartikel auszuschneiden und zu katalogisieren.
Geht man in einer Linie, im Kreis oder in einer Spirale weiter?
Vom Wasser zum Land – das ist wie bei den Korallen, die im Wasser stetig wachsen und Land bilden; das ist wie mit den Vorstellungen, Gedanken, Empfindungen und Zuständen, die sich ereignen und sich in Sichtbarem und Unsichtbarem manifestieren; das ist wie mit dem Mensch, der aus dem Wasser kam.
„Den rot-braunen Strand mit seinen schwarzen Kieseln wie einen Teppich aufrollen zu können, um darunter zu schreiben – und wenn die Ebbe kommt, sind an den Rändern die festen Schaumkronen.“
© Denise Steger